Über uns

 


 

Aus dem ersten Heft der Weißenseer Blätter (1/82, S. 1):

 

In den Weißenseer Blättern soll ein Chor von Stimmen laut werden, nicht nur aus dem WAK, sondern auch solcher Stimmen aus Kirche und Welt, die wir kritisch oder zustimmend hören sollten. Nicht mit allem, was wir veröffentlichen, identifizieren wir uns. Aber wir halten es für gut, es zur Kenntnis zu nehmen (...).

Die Weißenseer Blätter ... sollen ... ein Gespräch mit allen eröffnen, die nach der Aufgabe der Ökumene in unserer Zeit, nach dem Auftrag der Kirche in unserer Gesellschaft und nach der politischen Verantwortung der Christen fragen (...).

 


 

Zur Geschichte des Weißenseer Arbeitskreises*

 

von Jürgen Schöller

 

Wenn man sich einmal im Stil eines bekannten Kompendiums der Kirchengeschichte ausdrücken wollte, könnte man kurz feststellen: In der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg bildete sich im Jahr 1958 der Weißenseer Arbeitskreis, schlicht genannt nach dem Ort seiner Zusammenkünfte, eine freie innerkirchliche Vereinigung in der Art der sogenannten Kirchlichen Bruderschaften, mit linken Tendenzen. Der WAK befaßte sich mit theologischen Gegenwartsthemen, mischte sich gelegentlich in die Kirchenpolitik und in kirchlich-synodale Entscheidungen ein und verfaßte einige Verlautbarungen. Seine Mitgliederzahl reduzierte sich im Lauf der Jahre.

Ähnlich anderen kirchlichen Bruderschaften entstand auch der WAK aus aktuellem Anlaß. Der Vorgang dabei ist folgender:

Bestimmte wichtige theologische Themen kommen in der Gesamtkirche zu kurz oder werden unterdrückt. Einige haben den Eindruck, daß diese Themen jetzt endlich aufgegriffen werden müssen.

Der Weg, den die Kirche geht, wird als falsch und unchristlich erkannt. Einige haben den Eindruck, daß die ganze Richtung eine andere werden müßte.

Diese Gemeindeglieder finden sich zusammen, um gemeinsam und frei theologisch zu arbeiten und um ihre theologischen Erkenntnisse dann für den Weg der Kirche fruchtbar werden zu lassen.

Die Existenz solcher kirchlicher Bruderschaften ist also immer abhängig von einem bestimmten erkannten Auftrag. Sie stehen dabei in der Tradition der Bekennenden Kirche und der Theologischen Erklärung von Barmen (1934) sowie des Schuldbekenntnisses von Stuttgart und des Darmstädter Wortes.*

Im Rahmen dieser grundsätzlichen Besinnung auf die Funktion des Weißenseer Arbeitskreises soll jetzt eine Erscheinung (für die Zeit seiner Entstehung) besonders herausgehoben werden.

Es gab in den Jahren, in denen der WAK sich zusammenfand, eine bestimmte Kirchlichkeit, die man Dibelianismus nannte, nach dem Bischof Otto Dibelius, der in der Nachkriegszeit hier in unserer Kirche regierte. Das nationalistisch gefärbte, westorientierte kirchliche Herrschaftsdenken dieses Otto Dibelius beeinflußte die gesamte Nachkriegsgeschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nachhaltig. Es sei nur erinnert an die "Obrigkeits-Schrift" des Otto Dibelius und an den Abschluß des Militärseelsorge-Vertrages mit der Regierung der BRD. Es bestand mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit der Plan, die Kirchen in der DDR als Brückenkopf bundesdeutscher Politik, als Anhänger der Bonner Deutschland-Konzeption zu gebrauchen. Das Stichwort "Bewahrung der kirchlichen und völkischen Einheit" sollte für eine theoretische, in Wirklichkeit pseudotheologische Untermauerung dieser Pläne sorgen. Durch diese Orientierung wurden unsere Gemeindeglieder daran gehindert, sich im Glauben und im Dienst frei und vorurteilslos auf die Welt zu beziehen, in der sie ihr Dasein und ihre Aufgabe hatten.

In diesem geschichtlichen Zusammenhang sah der Weißenseer Arbeitskreis seine Funktion: auf Grund sorgfältiger theologischer Arbeit den Weg der Kirche in der Gegenwart zu finden und dabei im Hören auf den Auftrag von herkömmlichen liberalistischen, nationalistischen, moralistischen und ähnlichen Determinierungen frei zu werden.

"Dibelianismus" - die Sache hat zwar in diesem Namen eine besonders markante geschichtliche Ausprägung gefunden, sie hängt aber nicht daran. "Dibelianismus" ist doch wohl eine immerwährende Gefahr und Versuchung der christlichen Gemeinde in der Zeit. Mit der Feststellung: "Die Zeit des Dibelianismus ist vorbei" hat sich im Lauf der letzten Jahre manch einer vom WAK zurückgezogen. Ist aber die gefährliche Versuchung, um die es hier geht, auch so einfach "vorbei"?

Es ist dem Weißenseer Arbeitskreis nachgesagt worden, er sei so etwas wie eine innerkirchliche Opposition. Es soll darum hier einmal ein wenig aufgezählt werden, wogegen wir waren oder, besser gesagt, wogegen wir von unseren theologischen Voraussetzungen her sein sollten.

Also wir wollten und sollten dagegen sein,

o    daß die Kirche weltlich geartete Macht und Einfluß haben will,

o    daß die Kirche dementsprechend selbstsüchtig ihre Rechte verteidigt,

o    daß sie althergebrachte Vorrechte nicht preisgeben will,

o    daß sie immer erst ihre Freiheit verteidigt, um dann als zweites allenfalls auch noch von ihrem Dienst zu reden,

o    daß sie eine Partei der Christen gegenüber den Nichtchristen sein will im Schema "gute Kirche - böse Welt",

o    daß sie in ständiger Selbstrechtfertigung verharrt,

o    daß sie dementsprechend die Umwelt zur Buße ruft und nicht sich selbst,

o    daß die Christen, die selber faktisch nicht nach Gottes aktuellem Gebot leben, ihre Umwelt umso kräftiger nach ihm richten, das heißt verurteilen,

o    daß die Kirche auch beim Staat immer nur das anspricht, was er ihrer Meinung nach falsch macht, um dann ihrerseits laut darauf zu reagieren,

o    daß die Kirche sich immer nur in der Dialektik von Abwehr und Anpassung der Gesellschaft gegenüber bewegt, man könnte hier auch sagen: Antikommunismus und Opportunismus,

o    daß die Kirche den Zuspruch des Evangeliums allein für sich, den Anspruch des Gesetzes Gottes aber allein für ihre außerkirchliche Umwelt gelten lassen will,

o    daß die Christen der nicht-kirchlichen Welt ängstlich, vorurteilsvoll, mit Ressentiments geladen, gehässig, pharisäisch, besserwisserisch und argwöhnisch entgegentreten.

Wer dagegen ist, befindet sich natürlich "in Opposition", wenn auch ganz und gar nicht im üblichen Verständnis des Wortes.

Aber man kann nur dann glaubwürdig sagen, wogegen man ist, wenn man weiß und sagt und deutlich macht, wofür man ist.

Der Weißenseer Arbeitskreis war also dafür,

o    daß gründliche theologische Arbeit geschieht, möglichst frei von der Verklammerung mit nationalen oder politischen Affekten,

o    daß für unsere Gemeinden eine Kirchenordnung erarbeitet wird, eine Neu-Ordnung, die sich nicht hindern läßt durch historisch gewordene Einheit, bloße Kontinuität kirchlichen Rechtes und politischer Wünsche,

o    daß die Frage kirchlicher Einheit im Sinne von geistlicher und dementsprechend ökumenischer Einheit verstanden und behandelt wird,

o    daß wir unsere eigenen Beziehungen - etwa zu den Kirchlichen Bruderschaften in der BRD - als geistlich und ökumenisch verstehen und praktizieren,

o    daß wir uns um die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses bemühen durch die Befreiung von der Zwangslage, ein Werkzeug fremder Konzeption zu sein und sein zu müssen,

o    daß wir uns frei und offen unserer Welt als der Welt des sich entwickelnden Sozialismus zuwenden, frei von dem Zwang, uns ideologisch oder politisch "westlich" orientieren zu müssen,

o    daß wir also die Freiheit, zu der wir durch Christus befreit sind, als Freiheit zum Dienst - und in keiner Weise als etwas anderes - verstehen.

Wir waren also dafür, die aktuellen Fragen und die Richtung unseres Weges biblisch-theologisch zu durchdenken, um dann daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen.

Darum war der WAK nicht, wie ihm andererseits immer wieder nachgesagt worden ist, primär politisch oder kirchenpolitisch interessiert. "Arbeits-Kreis" heißt hier: primär theologische Arbeit. Dann aber darf man sich auch nicht scheuen, das als theologisch richtig Erkannte in Kirche, Politik und Kirchenpolitik zu vertreten - wenn dies dann auch nach Lage der Dinge oft genug in manchen kirchlichen Kreisen unpopulär ist.

Der Weißenseer Arbeitskreis hat im Verlauf der letzten 20 Jahre einige, im Grunde sehr wenige Verlautbarungen schriftlich verfaßt:

o    Zur Frage der Taufe (gegen die Alleinherrschaft der Säuglingstaufe),

o    zur Frage von Konfirmation und Jugendweihe,

o    zur Frage einer neuen Kirchenordnung,

o    zur Frage der Selbständigkeit der Kirchen in der DDR.

Dann aber und vor allem gab es die Abfassung der "Sieben Theologischen Sätze", die eine grundsätzliche schriftliche Fixierung des von uns als gut und richtig Erkannten geworden sind (1963). Sie waren veranlaßt durch die vorausgegangenen "10 Artikel" der Kirchenleitungen in der DDR.* Dabei sind die jeweiligen Überschriften programmatisch für die grundsätzlichen Unterschiede beider Dokumente:

- "10 Artikel von Freiheit und Dienst der Kirche"

- "7 Sätze von der Freiheit der Kirche zum Dienen".

Es ist in den vorangegangenen Darlegungen schon viel aus diesen 7 Sätzen zur Sprache gebracht worden. Es sollen nun aber doch einige wörtliche Zitate hinzugefügt werden:

"Jesus Christus befreit uns zum Bekenntnis unserer Schuld... (und zugleich) zum Bekenntnis der Vergebung unserer Schuld und zur Umkehr... Wie sollten, die seine Vergebung glauben, nicht für die hoffen, die sie nicht glauben?"

"Jesus Christus (befreit) seine Kirche dazu, ihre Glaubensgerechtigkeit nicht für sich zu behalten, sondern sich bekennend, liebend und dienend der Welt zuzuwenden, deren Sünde er trägt."

"Im Glaubensgehorsam widersteht die Kirche der Versuchung, Gottes Wort schützen zu wollen. Unbesorgt um sich selbst, kann sie furchtlos nach neuen Wegen suchen..."

"Sie (die Kirche) wird ihre Ordnung als Ordnung des Dienstes und nicht der Macht ohne Haß und Polemik von der Ordnung der politischen Gemeinde unterscheiden."

"Im Glaubensgehorsam sind wir dessen gewiß, daß uns nichts von Gottes Liebe scheiden kann. Darum begegnen wir der nichtchristlichen Gesellschaft nicht ängstlich oder gehässig, sondern
hilfsbereit und besonnen und können so auch in der sozialistischen Gesellschaftsordnung verantwortlich mitleben."

 

 


 

Wie links sind eigentlich die Weißenseer Blätter?*

von Christian Stappenbeck und Hanfried Müller

 

Wir lesen nicht nur mit Genuß, was nette Leser an uns schreiben, sondern wir hören auch mit Humor, was andere über uns munkeln und deuteln.

Außer Frage steht: "Links, wo das Herz ist", sind auch die WBl.

Das hindert nicht, daß manche finden, wir stünden "rechts".

Sind wir "konservativ", weil wir Arbeit gut und Leistung unentbehrlich finden, weil wir Staaten, die für Recht und Frieden sorgen, für eine gute Gabe Gottes halten, weil es uns als Firlefanz erscheint, zum Beispiel die Gleichberechtigung der Frauen durch eine Entmaskulinisierung der Sprache zu bewerkstelligen (so nennen wir uns noch immer ungeniert "Bruderschaft", obgleich viele gleichberechtigte Schwestern zu uns gehören), und weil wir nicht (...) etwas darum gut nennen, weil es neu ist, und alles verwerfen, was und weil es unmodern ist? In der Tat: Nicht im Kreislauf der Moden, sondern nach vorn - schrecklich "linear" - zu mehr Wahrheit, Recht und Frieden möchten wir uns und andere bewegen.

Oder nennt man uns "rechts", weil man das Wort noch im klassischen Sinne des bürgerlichen Parlamentarismus benutzt? "Rechts" ist, wer regiert, "links" ist, wer opponiert. Im Sozialismus regieren zumeist Sozialisten, also sind sie "rechts"; und gegen den Sozialismus "opponiert" die Reaktion - also ist die Reaktion "links"? Es entstehen politische Weltbilder wie im Spiegelkabinett, und alles wird ein bißchen unübersichtlich.

"Rechts" und "links" ist eben nicht dasselbe, wenn man sich gegenübersteht. Es sind subjektive Begriffe.

*

Andere verstehen uns besser, als wir uns selbst verstehen: von "ultralinks" ist da die Rede - oder von "linksradikal" und "links überholen", und ein ganz Vorwitziger hat uns gar "rote Christen" genannt.

"Ultralinks"? - Was ist jenseits von "links"? "Rechts" natürlich, aber nur dann, wenn man an einen Kreis denkt, der sich auf der anderen Seite schließt.

"Linksradikal"? - Nun, das meint wohl Radikalinskis auf der Linken, Leute des "Alles oder nichts" und des "Sofort oder gar nicht", die zumeist nichts von dem und gar nicht erreichen, was sie wollen. Nur: "Wenigstens ein bißchen" und "wenigstens später einmal" ist natürlich auch keine Alternative. So "rechtsgemäßigt" möchten wir wirklich nicht sein. Hält man uns schon darum für "ultra"-links?

Und "links überholen"? Bei Linksverkehr kann das allerdings nur gegen den Baum oder in den Chausseegraben gehen. Aber herrscht in unserer Kirche allgemein Linksverkehr? Bei Rechtsverkehr wird man allerdings links überholen müssen, wenn man vorwärts will - und überdies an manchem vorbeifahren, der rechts parkt - und in Einbahnstraßen sogar rechts vorbei an denen, die links anhalten und rechts aussteigen, um (jedenfalls alternativ!) kontemplativ zu verschnaufen oder aktiv allerlei Unfug zu treiben.

"Rechts" und "links" sind nicht nur subjektive, sie sind auch relative Begriffe, anschaulich, zuweilen nützlich, oft unumgänglich, aber sofort verwirrend, wenn man sie verabsolutiert.

Und schließlich: "rote Christen"? "Rote", "braune", "grüne" Christen - das sieht bunter aus, als es ist. Zuletzt sind diese kunterbunt Eingefärbten wenig waschecht, und wenn sie in Sturm und Regen kommen, erscheinen sie hinterher alle violett: gerade das sind wir nun allerdings so wenig, daß man es uns nicht einmal nachsagt.

Aber Scherz beiseite: Daß auch linker Radikalismus gefährlich ist, weiß jeder, der Lenins Schrift einmal gelesen hat. Allerdings ist im ursprünglichen Sinn Lenins der "linke Radikalismus" eine Kinderkrankheit des Kommunismus. Es ist die Frage, ob nicht-kommunistische Kinder wie die Weißenseer Blätter überhaupt damit infiziert werden können, zumindest zeigten sich dann wohl andere Symptome. Ein Symptom ist die zu starke Mißachtung parlamentarischer Arbeit. Will man Analogien an den Haaren herbeiziehen, muß man doch zugeben: die WBl nehmen die Synodalarbeit sehr ernst. Ein entscheidendes Symptom ist mangelnde Bündnisbereitschaft - mit Nichtkommunisten! Will man analog denken, kehrt sich für uns die Frage um: sind wir bereit zur Kooperation mit Kommunisten? Nun, gerade das verübelt man uns ja und nennt uns "rote Christen".

Aber man muß nicht erst Lenin lesen, es genügt die tägliche politische Erfahrung, um sich über den linken Radikalismus zu ärgern. Es ist hinderlich, immer mit der linken Hand Sektierer oder Miniaturanarchisten abwehren zu müssen, die einem wie Kinder zwischen die Beine laufen, während man einen Feind hat, den es auf Tod und Leben, sprich Krieg und Frieden, zu bekämpfen gilt: und dieser Feind steht rechts! Da kommt man in Versuchung, das Gesicht von diesem Feind abzuwenden, es den Dogmatikern oder Chaoten, die einem zwischen die Füße stolpern, zuzuwenden, um erst einmal Schluß zu machen mit diesen Störenfrieden... Und unversehens hat man den echten, großen, wirklichen Feind im Rücken!

Sollten manche die Weißenseer Blätter darum für "linksradikal" halten,, weil wir versuchen, mit der linken Hand nach hinten wegzuschieben, was uns engstirnig oder wirrköpfig stört und ablenkt, um die Rechte jederzeit frei zu haben zur Verteidigung und zum Angriff auf die Reaktion? Möglich, daß es solche Mißverständnisse gibt.

*

Wie dem auch sei: Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Und Feuer haben - hoffentlich! - die Weißenseer Blätter. Der Kern dessen, worüber da mit "rechts" und "links" spekuliert wird, liegt wohl woanders, als es die Spekulanten aus der Form der Rauchschwaden deuten.

Setzen wir einmal ganz theologisch ein, manche mögen es "dogmatisch" nennen: Wer diese Welt mit ihrer Lust und ihrem Leid, mit ihrer Schuld und ihrer Güte als Gottes Schöpfung glaubt, der kann nicht sagen: "Alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrundegeht" - und flugs erscheint er den Skeptikern, Zynikern, Pessimisten und Anarchisten als "konservativ" und also "rechts". Wer aber eben diese Welt als Schöpfung Gottes glaubt, der kann sie auch nicht und nichts in ihr vergöttern und anhimmeln; der weiß, daß alle Güte in Gottes Urteil über sie und nicht in ihr selber ruht; der findet sie in Dankbarkeit schön, aber er färbt sie nicht schön! Der sieht, um seine eigenen Mängel wissend, alle Mängel, aber er sieht nicht "schwarz" - und schon erscheint er den Enthusiasten auf der einen Seite zu kritisch, weil er nicht schön-färbt (und also als zu "links"), und den Enthusiasten auf der anderen Seite zu unkritisch, weil er nicht schwarz-sieht (und also als zu "rechts").

Wir sind zwar nicht "linksradikal", aber "von der Wurzel her" (ex radice) radikal links, sofern links heißt, was ist, nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern, es nicht nur zu konservieren, sondern zu entfalten und zu entwickeln, nicht nur das "Machbare" zu machen, sondern das Not-Wendige machbar zu machen, nicht nur das Wirkliche vernünftig zu nennen, sondern das Vernünftige zu verwirklichen. In diesem Sinne sind wir für das Lebensrecht aller gegen Vorrechte, die auf Geburt, Eigentum und elitärer Bildung beruhen, für Kultivierung der menschlichen Gesellschaft und Geschichte, für Massen-Aktivität und Bewußtsein und dagegen, die Geschichte ihrem Selbstlauf zu überlassen; für gesellschaftliche Neuordnung unter der Bedingung der friedlichen Koexistenz der Staaten und gegen Krieg, Barbarei, Anarchie und Nihilismus. Wir sind für ein Fortschreiten in dynamischer Stabilität.

Empfindet man es als "linksradikal", daß wir Stabilität in der Bewegung nach vorn wollen? Aber ein Radfahrer, der auf der Stelle steht, sucht schwankend mühsam Balance, nur die Fahrt verleiht ihm Stabilität. Sollten es ängstlich balancierende Radfahrer sein, die uns "linksradikal" nennen?

Empfindet man es als "rechts" und "konservativ", daß wir in der Bewegung nach vorn Stabilität wollen? Das ärgert die "Destabilisierer". Sie nennen alles "dogmatisch", was einen geraden Linkskurs hält, mitten durch die hindurch, die undynamisch stagnieren oder sich unstabil im Kreise drehen und schwindeln. Sie möchten uns zwischen "Supermächten" torkeln lassen und nennen Geradlinigkeit Starrsinn.

Verstehen können wir schon, daß man uns von rechts "ultralinks" und von ultralinks "konservativ" und mit verschiedenem Akzent von beiden Seiten "dogmatisch" schilt. Da gibt es Leute, die lehnen jede Zusammenarbeit mit uns ab - und uns nennen sie dann "Sektierer" und ärgern sich, daß diese "Sekte" so viele Freunde gewinnt.

*

Tatsächlich teilen wir manche Haltungen nicht, die man offenbar rechts und links von uns einnimmt. Das gilt anscheinend für unsere theologische und für unsere politische Existenz.

Für uns kann nicht alles zu einer Frage der Taktik, Kirchendiplomatie, Anpassung und Flexibilität werden. Dagegen steht schlicht das erste Gebot - und es steht auch dagegen, uns oder andere einfach für Engel oder Teufel zu halten. "Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott" (Matth.19,17). Es gehört zum Wesen kirchlicher Bruderschaft, sich weder gegenseitig zu schmeicheln noch sich verächtlich zu machen, sondern die Sache über die Person zu stellen. Gott allein überlassen wir das Urteil über die Person, untereinander haben wir unsere Worte und Werke zu prüfen. (...)

Wir wären kein bruderschaftliches Mitteilungsblatt mehr, wenn wir die brüderliche gegenseitige und brüderlich rücksichtslos-offene Ermahnung vergäßen, wenn wir Kritik an uns selbst unterdrückten und Schwestern und Brüder in unseren Gemeinden wie in der ganzen Ökumene, gleichgültig, welche Ämter sie wahrnehmen, nicht mehr kritisch anzureden wagten: weder wir noch andere sind unfehlbar.

Aber wir setzen die Kenntnis unserer Fehlbarkeit nicht um in Skepsis gegenüber der Wahrheit.

Wir meinen, daß es nur eine Wahrheit gibt: Jesus Christus, das eine Wort Gottes, ist die Wahrheit und das Leben. Gottes Wahrheit wollen wir nicht skeptisch relativieren. Wir möchten sie weder "politisieren" und "handhabbar" machen, noch möchten wir sie entpolitisieren und neutralisieren. Wir meinen überhaupt, daß nicht wir mit ihr etwas zu machen haben, sondern daß sie mit uns etwas machen will. Da steht mit Schrift und Reformatoren schroff und exklusiv ein "allein". Das vereint nicht nur, sondern trennt auch. Das erscheint theologisch "rechts": "orthodox" und "sektiererisch". Wir haben ja keinen Sinn für die Gemeinsamkeiten, zu denen man uns einlädt: für die anthropologische Gemeinsamkeit ("um den Sinn allen Menschseins, um Selbstfindung und Selbstverwirklichung geht's doch uns allen!") und für religiöse Gemeinsamkeit ("ein Letztes, ein Höchstes und ein Erstes - das muß es doch geben, nennen wir es Christus oder Belial!"). Jawohl, wir schneiden sie ab (von 'secare' gleich "abschneiden" kommt "Sekte"), diese religiöse Anthropologie und diese anthropologische Religion!

Aber das "allein Jesus Christus" ist ja gar nicht exklusiv - es ist ja inklusiver als irgend etwas anderes. Die Götter der Heiden schließen die aus, die ihnen nicht anhängen. Er aber schließt die in sein Leben ein, die ihm das Leben nehmen. Ausschließlich er schließt keinen aus. Er verbindet die Menschen, die sich durch ihre Gottesbilder und Menschenbilder trennen. Zum Ausschließen, zum Abschneiden, zum Sektieren kommt es gerade dort, wo dies so sektiererisch klingende "Allein" verleugnet wird: da gibt's dann die Front der Gottgläubigen gegen die Gottlosen, der Gerechten gegen die Sünder, der Theisten gegen die Atheisten.

Zu seiner Wahrheit verhalten wir uns relativ. Wir sind sein, nicht er ist unser Eigentum - und mithin hat die Wahrheit uns, nicht wir sie. Wir sind keine Wahrheitsbesitzer. Allenfalls bilden wir uns das ein. Unser Wissen bleibt Stückwerk, und bestenfalls ergänzt es sich gegenseitig. Insoweit sind wir theologisch "links" und "liberal".

Aber seine Wahrheit ist nicht relativ. Es gibt unzählig viele Irrwege und Lügen, aber nur diesen einen Weg und diese eine Wahrheit. Darum sind wir gegenüber der Wahrheit nicht relativistisch und skeptisch, sondern skeptisch sind wir gegenüber einem Pluralismus, der die Wahrheit relativiert. Kritisch sind wir gegenüber einer Toleranz, die die Unwahrheit nicht leidend erträgt, sondern gleichgültig duldet. Fragwürdig ist uns eine Liberalität, die aus dem Satz: "Irren ist menschlich" den Satz macht: "Irren ist erlaubt". Insoweit sind wir theologisch "rechts" und "orthodox". (...)

*

Darum sind wir auch im Blick auf die Erkenntnis der Welt nicht relativistisch und skeptisch. Um richtig oder falsch geht es - im Denken und im Handeln. Was recht und richtig ist, kann zwar in der Mitte liegen, muß es aber nicht. Der "goldene Mittelweg" ist zwar meist bequem, aber nur selten richtig. Darum kann es zwar geboten sein, sich hier oder da neutral zu verhalten, der Neutralismus jedoch kann keineswegs Maßstab für das Gebotene sein. Zwar gibt es meist viele Wege, um das Rechte und Richtige zu erkennen, aber in der Regel ist nicht vieles, sondern nur eines wirklich recht und richtig, unzählig vielfältig sind auch in der Erkenntnis und Gestaltung der Welt nur die Täuschungen und Abwege. Darum ist es zwar gut und nötig, daß wenn möglich alle nach den rechten Wegen suchen, aber gefunden werden muß der eine richtige Weg, den man gemeinsam geht. Darum darf die Pluralität der Diskussion nicht umschlagen in einen Pluralismus der Entscheidungen.

*

Das Rechte und Richtige kann nur überzeugen, wenn Gründe und Gegengründe abgewogen werden, wenn Widersprüche nicht verdrängt und verborgen, sondern aufgedeckt und gelöst, zumindest aber entschieden werden. Dazu bedarf es des sachlichen und offenen Meinungsstreites, aber keiner zuchtlosen Demagogie, keines undisziplinierten Geschwätzes und keiner "Diskussionsplattformen" zur Stimmenwerbung für Wirrköpfe und Antikommunisten.

Offen aber möchten wir in den "Weißenseer Blättern" unsere Meinung bilden: Offen, indem wir uns gegenseitig widersprechen, warnen und mahnen. Achtung, und nicht Mißachtung drückt sich darin aus, wenn man den anderen des Widerspruchs würdigt. Man mißversteht die Ebene unserer Auseinandersetzung in und mit der Kirche, wenn man das für eine Beeinträchtigung möglicher und wirklicher Gemeinsamkeiten hält. Gewiß ist solch Verhalten "undiplomatisch". Diplomatie ist hoch zu schätzen, wo sie hingehört: in die Sphäre des Interessenausgleiches zwischen Staaten und politischen Mächten. Aber wir möchten sie nicht dort treiben, wo sie fehl am Platze ist, in der Sphäre des Meinungsaustausches zwischen Schwestern und Brüdern, Freunden und Gegnern zwecks Meinungsbildung und Wahrheitsfindung.

Und wir möchten unsere Meinung offen bilden in dem Sinne, daß jedermann dabei zuhören kann. Zwar wollen wir nicht alle Meinungen teilen oder dulden, wohl aber prüfen. Und jeder soll prüfen können, welche Gründe wir gehört und erwogen, welche wir etwa übersehen, welche wir uns zu eigen gemacht und welche wir verworfen haben. Wir meinen, es tut richtigen und rechten Entscheidungen keinen Abbruch, sondern fördert ihre Wirkung, wenn die Entscheidungsfindung öffentlich erfolgt und man erkennen kann, in der Abwägung welcher Gründe, in der Lösung welcher Widersprüche und in der Wahrung welcher Interessen sie zustande kamen. (...)

Unser Ziel ist es, Fakten zu erklären, ihre Ursachen zu zeigen, sie wenn nötig zu verändern oder ihre Unabänderlichkeit zu begründen. Das aber geht nicht, wenn man vor Fakten die Augen verschließt, wenn man sie hysterisch dramatisiert oder sie um der Ruhe und des lieben Friedens willen verharmlost. So erscheinen wir manchen als "Nestbeschmutzer", wenn wir unser Nest von dem Schmutz reinigen wollen, vor dem sie die Augen verschließen; sie nennen uns dann "linksradikal". Und anderen erscheinen wir als "Apologeten des Bestehenden", wenn wir uns an ihren Kritteleien nicht beteiligen und so manchen Fleck für oberflächlich, belanglos oder unvermeidlich halten, angesichts dessen sie ihre Welt untergehen sehen; sie nennen uns dann konservativ.

*

Bei alledem sind wir uns dessen bewußt: Was wir hier beschreiben, bezeichnet Aufgaben, die wir weitaus mehr schlecht als recht zu erfüllen versuchen. Nennt man uns "rechts" oder "ultralinks", sei uns das Anlaß zur Selbstprüfung. Allerdings dürfen wir vielleicht noch einmal an das Bild von der dynamischen Stabilität beim Radfahren erinnern: auch wer geradeaus einen linken Kurs hält, muß mal rechts und mal links in die Pedale treten - das heißt noch nicht immer gleich "Linksabweichung" und "Rechtsabweichung", obwohl es leicht so aussieht, vor allem beim Hinauffahren auf steile Berge.

Es geht um die verantwortungsbewußte Freiheit, "alles zu prüfen und das Gute zu behalten". Das Gute ist nicht einfach alles, was als nützlich oder zweckmäßig erscheint. Daß uns letztlich die Wahrheit zugute kommt, schließt gerade nicht ein, sondern aus, einfach für wahr zu halten, was uns nützt. Und Freiheit heißt nicht, Beliebiges tun zu können, sondern es heißt Vermögen und Macht und Verantwortung dazu und dafür, das Not-Wendende zu tun und die "Notwendigkeiten" so zu erkennen, anzuerkennen und zu verändern, daß das möglich wird. Wer und was immer so geprüft wird und sich nicht gerne prüfen läßt, wird sich getroffen fühlen. Ohne das geht es nicht, wenn wir gemeinsam den besten Weg zum gebotenen Ziel finden wollen. Selbstgerechtigkeit steht der Gerechtigkeit, Selbstsucht der Liebe und Selbstmitleid der Barmherzigkeit im Wege, und wir werden uns im Blick darauf freimütig und offen kritisieren müssen, wenn wir den Weg zu einem überzeugten Handeln finden wollen, das weder einem chaotischen noch einem akklamativen Spontanismus erliegt, sondern dazu hilft, daß wir als Kirche in der sozialistischen Gesellschaft unsere politische Mitverantwortung bewußt, besonnen und entschieden wahrnehmen. Wir halten das weder für konservativ noch für linksradikal noch für sektiererisch.

 


* Die folgende Rede wurde 1978 anläßlich einer Einladung des WAK gehalten und 1988 in den WBl dokumentiert.

 

* Barmer "Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche" (29.-31. Mai 1934), Kirchliches Jahrbuch (KJ) 1933-1944, Gütersloh 1948, S. 63 ff; "Stuttgarter Schuldbekenntnis": Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland gegenüber den Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen (19. 10. 1945) KJ 1945 - 1948, Gütersloh 1950, S. 26 f.; "Darmstädter Wort": Wort des Bruderates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes, a.a.O., S. 220

 

* Beide Texte s. Kirchl. Jahrb. 1963, Gütersloh 1965, S. 181-185 und S. 194-198

 

* Dieser Artikel , veranlaßt vor allem durch Angriffe aus der CDU der DDR, erschien in WBl 3/84.

 

 

 


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