GNN Verlag, Schkeuditz 2010, 330 Seiten, 15 Euro * brosch., ISBN 978-3-89819-314-6. Die von Dieter Kraft edierte politische Autobiographie kann auch über den Verlag bezogen werden: 04435 Schkeuditz, Badeweg 1 (www.gnn-verlag.de)

 

Von der Kirche zur Welt

Vorabdruck. »Erfahrungen, Erinnerungen, Gedanken. Zur Geschichte von Kirche und Gesellschaft in Deutschland seit 1945.«

Der Theologieprofessor Hanfried Müller (geboren am 4. November 1925; gestorben am 3. März 2009)

Foto: Privat

 

Ein Jahr nach seinem Tode am 3. März 2009 erscheint in diesen Tagen die politische Autobiographie des Theologen Hanfried Müller - ein Dokument von hochaktueller politischer, theologischer und analytischer Bedeutung, das ein Kapitel deutscher Geschichte und Kirchengeschichte im Fokus persönlicher Erfahrungen und Erinnerungen widerspiegelt. Hanfried Müller war in der DDR der profilierteste Vertreter einer ausgewiesen reformatorischen Theologie, die entschieden einem Kirchenverständnis widersprach, das sich als antikommunistischer Widerpart des ersten sozialistischen deutschen Staates verstand. Mit der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Weißenseer Blätter schuf er ein publizistisches Organ, in dem - beispiellos - bereits 1982 vor der drohenden Annexion der DDR gewarnt wurde.

Im Vorwort schreibt Dieter Kraft: »Seine Aufzeichnungen sind ein Torso geblieben. Dennoch enthält bereits der publizierbare Text eine solche Fülle an grundsätzlicher historischer Einsicht und politischer Erkenntnis, daß seine Lektüre weit über den Blickwinkel subjektiver Wertungen hinausträgt.«

junge Welt dokumentiert einen Auszug aus dem einleitenden Kapitel.

 

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Subjektive Gedanken und persönliche Erinnerungen aus der Zeit zwischen der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in Deutschland 1945 und der imperialistischen Konterrevolution in Europa 1989 möchte ich hier notieren, nicht so sehr objektive Fakten und Daten.

Ich beschränke mich also darauf zu erzählen, wie ein kirchlich und politisch engagierter Christ und Bürger, zuweilen in Beratungsgremien, fast nie in Leitungsgremien eingebunden, also weder von »oben«, noch von »unten«, sondern aus einer Mittellage kirchlicher und politischer Existenz heraus Höhe- und Wendepunkte dieser Geschichte erlebt und verstanden hat.

Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen historischen Fakten und der Erinnerung daran. Dabei sind »aktenkundige Fakten« nicht einmal immer zuverlässiger als Erinnerungen. Denn nichts ist leichter, als Irrtümer, Fälschungen und Lügen in »aktenkundige Tatsachen« zu verwandeln, indem man sie aufgeschrieben und abgeheftet als »historische Dokumente« überliefert.

Aber auch davon abgesehen gibt es eine Spannung zwischen überlieferter und erlebter Geschichte, und das desto mehr, wenn die Kontinuität der Geschichte von revolutionären oder konterrevolutionären Umwälzungen durchbrochen ist.

In der Zeit, um die es hier geht, geschah das gleich zweimal: einmal durch die antifaschistisch-demokratische Umwälzung von 1945 und dann durch die Konterrevolution von 1989. Und solche Umbrüche betreffen nicht nur die Geschichte selbst, sondern auch die Perspektive, aus der sie erlebt und beschrieben wird.

Dabei unterscheiden sich memoria und historia auch dadurch, daß eingestandenermaßen zur memoria immer das sich erinnernde Subjekt hinzugehört, samt dem gesellschaftlichen Standpunkt, von dem aus es die Geschichte erlebt hat. Darum stelle ich diesen Reflexionen über die Auseinandersetzungen um die Reformation der Kirche und um die Neuordnung der Gesellschaft nach 1945 eine autobiographische Skizze über mein Leben bis zur Befreiung vom Faschismus voran, also bis zu der Zeit, von der an ich hier meine Erinnerungen daran, Erfahrungen dabei und meine Überlegungen dazu aufzeichne.

Diese jeweils sozial differenzierten Erinnerungen sind allerdings ebensowenig unparteiisch und in diesem Sinne »objektiv« wie die jeweils herrschende Historiographie. Die herrschende Geschichtsschreibung dient stets der herrschenden Klasse zur Legitimierung ihrer Macht und meistens zugleich dazu, eben diesen ihren Zweck, also ihre Parteilichkeit, zu verbergen. Erinnerungen hingegen verleugnen die sozialpolitische Position ihres Subjektes und ihre Subjektivität nicht, sondern reflektieren sie offen und sind deshalb oft ehrlicher und zuverlässiger als die herrschende Geschichtsschreibung. Sie nämlich pflegt sich gerade dann stolz als »objektiv« auszugeben, wenn sie eben das nicht ist. (...)

Das Subjekt dieser Erinnerungen

Von außen gesehen würden viele meinen Weg als einen solchen »von West nach Ost«, einige etwas treffender als einen solchen »von der Kirche zur Welt« beschreiben. Ich selbst sehe ihn kirchlich-theologisch als Weg über eine je kurze klerikale und dann pietistische Phase zum reformatorischen Christen und gesellschaftlich-politisch vorrangig als den eines konservativen Antinazis zum revolutionären Antifaschisten, oder noch etwas exponierter, allerdings auch leichter mißdeutbar, als die Entwicklung eines reaktionären Antinazis zu so etwas wie einem Kommunisten.

Das mehrdeutige Wort »reaktionär« bringt, insbesondere so, wie es Faschisten benutzen, die (selbst das Gegenteil von fortschrittlich) alles »reaktionär« nennen, was hinter ihrer Zerstörung aller Humanität zurückbleibt, besonders deutlich die Mentalität zum Ausdruck, in der ich, insbesondere unter dem starken Kindheitseindruck meines Vaters, aufgewachsen bin. Er war Jurist, zuletzt Senats- und Vizepräsident am Oberlandesgericht in Düsseldorf, und starb 1938. Mit jeder Phase seines Herzens hatte er nicht einmal so sehr an dem vorimperialistischen Deutschland, als viel mehr an dem von der Aufklärung geprägten, vorromantischen Preußen gehangen. Aber auch meine Mutter, die im hanseatischen Patriziergeist aufgewachsen war, repräsentierte eine vormonopolistische Bürgerlichkeit. So herrschte in meinem Elternhaus, sachlich analytisch beschrieben, der Geist eines von hinten her begründeten und insofern »reaktionären« Antinazismus: Zurück zu einer mehr ländlich oder mehr städtisch geprägten, aber durchaus bürgerlichen Solidität.

Diesem Antinazismus fehlte sehr weitgehend eine reflektiert soziale Komponente. Zwar wurde die »nationalsozialistische« Demagogie und der Terror der braunen Horden als unerträglich kulturlos und barbarisch empfunden, aber es wurde kaum reflektiert, daß sie im Interesse des deutschen Monopolkapitals funktionierten. So lernte ich die Nazis nicht als Konterrevolutionäre, sondern, wie sie selbst es ja vortäuschen wollten, als Revolutionäre zu verstehen und zu hassen. Das ging so weit, daß »Nationalsozialisten« und wirkliche Sozialisten als feindliche Brüder erschienen - jedem Kommunisten ganz unvorstellbar. (Immerhin ist es vielen Christen ebenso unvorstellbar, warum manche Kommunisten sie nur als andere Fraktion der gleichen Gattung wie ihre klerikalfaschistischen und deutsch-christlichen Gegner empfinden.)

Übrigens war mein Elternhaus sozial nicht so borniert, wie man nach dieser Beschreibung denken könnte. Zum Beispiel gab es in meiner Kinderzeit für soziale Kontakte nur eine Grenze, die ich unbewußt respektierte: Wenn ich mich mit meinen Klassenkameraden aus der rheinischen Monopolbourgeoisie angefreundet hätte, wäre das meinen Eltern kaum recht gewesen, und eine spürbare soziale Aversion gab es gegenüber den Nachfolgern des Kleinbürgertums, den Hauptadressaten der Faschisten, den desozialisierten, von Proletarisierung bedrohten und sie fürchtenden Schichten.

Gegenüber den Arbeiterkreisen, mit denen man natürlich nicht gesellschaftlich verkehrte, gab es Respekt. Und erstaunlicherweise galten sogar Kommunisten im Unterschied zu den Nazis als honorige Gegner, die man, auch wenn man natürlich mit ihnen keine Kontakte suchte, doch achtete. Immerhin, als ich, damals ein Kind von sieben Jahren, mich während des Reichstagsbrandprozesses für Dimitroff begeisterte, gab es in meinem Elternhaus keinen Protest dagegen, und vermutlich hatte ich ja diese Begeisterung aus Tischgesprächen meiner Eltern geschöpft, die den Reichstagsbrand selbstverständlich von Anfang an für eine Provokation der Nazis hielten.

Für dieses deutsche patrizisch-akademische Bürgertum gehörte fraglos auch die Kirche zur bürgerlichen Welt - mit Taufe, Konfirmation, kirchlicher Eheschließung und Beerdigung, aber ohne Predigt, Gebet und Abendmahl, also nur konventionell. »Natürlich« (so muß man sagen, um diese »Christlichkeit« zu charakterisieren, die nichts mehr von Matth. 16,17 »das haben dir nicht Fleisch und Blut offenbart« wußte) gab es in unserer Familie gelegentlich für mich als Kind ein »Gute-Nacht-Gebet«, sehr nahe an Geschichten vom Weihnachtsmann, davon abgesehen aber weder Christliches noch Religiöses, worunter man übrigens wohl ungefähr dasselbe verstanden hätte.

Bekennende Kirche

So wurde ich innerhalb meiner Generation, die ja überwiegend von »Jungvolk« und »Hitlerjugend« geprägt war, zu so etwas wie einem Außenseiter. Darum war es sicher primär politisch bedingt, daß ich mich in dem Alter, in dem Jugendliche ihre ersten sozialen Beziehungen eingehen, einem Schülerbibelkreis der Bekennenden Kirche anschloß.

Mit diesen Schülerbibelkreisen führten vornehmlich sogenannte »junge Brüder« die von den Nazis teils integrierte, teils liquidierte kirchliche Jugendarbeit in einer Grauzone zwischen Legalität und Illegalität weiter. Diese »jungen Brüder« waren evangelische Theologen aus dem »bruderrätlichen« Flügel der Bekennenden Kirche. Das war derjenige Flügel der Bekennenden Kirche, der sich den deutschchristlich dominierten offiziellen Kirchenleitungen radikal entzogen, eigene Kirchenleitungen, eben die »Bruderräte«, gebildet und seinen Nachwuchs aufgefordert hatte, nicht vor den deutschchristlichen Konsistorien, sondern vor eigenen, illegalen Prüfungskommissionen der Bekennenden Kirche ihr Examen abzulegen. Deren Absolventen wurden von der offiziellen »Deutschen Evangelischen Kirche« nicht eingestellt. Meistens wurden sie von bekennenden Gemeinden in einer arbeitsrechtlich völlig unabgesicherten Position als Hilfsprediger beschäftigt, in Einzelfällen auch von Landadligen, die traditionell noch das Recht zur Besetzung ihrer Dorfpfarrstellen hatten, »legalisiert«.

Kirchenrechtlich waren sie darum keine Pfarrer und wurden auch nicht so angeredet, sondern mit dem ungeschützten Titel »Pastor«. (...)

Durch diesen Kreis kam ich auch mit anderen Kreisen der »dahlemitischen« Bekennenden Kirche in Berührung.

»Dahlemiten« nannte man den »radikalen« Teil der Bekennenden Kirche, der sich 1934 mit der Synode von Dahlem konsequent von der DEK, der deutschchristlichen, zumindest deutschnational orientierten »Deutschen Evangelischen Kirche«, getrennt hatte. Er verstand sich als die einzige wahre evangelische Kirche in Deutschland; politisch war er nicht nur gegenüber dem »Nationalsozialismus«, sondern zum Teil auch gegenüber dem Deutschnationalismus verhältnismäßig immun. Seine bekanntesten Repräsentanten waren Martin Niemöller und - theologisch besonders einflußreich, aber auch in diesen Kreisen politisch immer etwas umstritten - der 1935 aus Deutschland vertriebene Karl Barth. (...)

Soldat der deutschen Wehrmacht

Von 1943 bis 1945 war ich dann Soldat der deutschen Wehrmacht, zunächst längere Zeit im Lazarett. Dort erlebte ich den 20. Juli 1944, zuerst begeistert, denn das war der Geist des Antinazismus, in dem ich aufgewachsen war, und dann vom Mißlingen tief enttäuscht. Ich spürte, daß er, auch unter den nicht nazistischen Mitsoldaten, auf ein mir unbegreifliches Desinteresse stieß, begriff aber noch nicht, daß das Ausdruck einer Klassenmentalität, allerdings auch eines unreifen Klassenbewußtseins, war; die antifaschistischen Organisationen in sowjetischen Gefangenenlagern reagierten, was man natürlich in Deutschland nicht erfuhr, sehr viel reifer. Im August 1944 kam ich dann, gerade zur Schlacht um Rimini, nach Italien, zuerst als Divisionsfunker, aber schon bald, um einem Offizierslehrgang zu entgehen, für den ich als »ROB« abkommandiert werden sollte, als Infanteriefunker im meist unmittelbaren Fronteinsatz.

An Land und Leute in Italien habe ich bis heute gute und lebendige Erinnerungen, desto schlimmere an den grauenvollen Terror der deutschen Besatzung. Sie lassen sich wie die Erlebnisse der Nazizeit, mit denen sie zusammengehören, auf die knappe Formel bringen: Nie wieder!

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Mit der Emanzipation von der in meinem Elternhaus herrschenden, vormonopolistisch-vorimperialistischen bürgerlichen Mentalität, die nicht nur radikal antinazistisch, sondern nicht einmal, wie fast das ganze übrige deutsche Bürgertum (nicht nur im Sinne der »Deutschnationalen Volkspartei«), »deutsch-national« war, und mit der Befreiung aus der immerhin doch recht klerikalen, vor allem aber pietistischen Mentalität, in die ich, solchermaßen antinazistisch geprägt, durch die Bibelkreise der Bekennenden Kirche hineingewachsen war, begann ich seit 1945 zum selbstverantwortlichen zoon politikon zu werden, zu einem Staatsbürger, der sich dann eigentlich recht schnell, nämlich in den vier Jahren von 1945 bis 1949/50, vom reaktionären Antinazi zum revolutionären Antifaschisten entwickelte.

So umfassen diese Erinnerungen den Weg eines von Hause aus durch und durch bürgerlichen Menschen, der aber, während des Absturzes seiner Klasse in den Faschismus zum Antinazi erzogen, das Vertrauen in die Geschichtsfähigkeit seiner Klasse verloren hatte.

Sie setzen ein mit dem Tage, an dem ich nach der faktischen Auflösung der deutschen Besatzungsarmee kurz vor deren Kapitulation, nach einem gräßlichen Blutbad, das die Waffen-SS in einem italienischen Dorf angerichtet hatte, zunächst von dort beheimateten Partisanen gefangen genommen wurde und dann, recht dramatisch, in amerikanische Gefangenschaft »flüchtete«.

Freiheit hinter Stacheldraht

In gewissem Sinne begann mit diesem Tag für mich die Geschichte - als Verantwortungsbereich, nicht als Datensammlung.

Daß die Tage der deutschen Kapitulationen im Mai 1945 für sehr viele gar keine »Tage der Befreiung« waren, habe ich damals kaum bemerkt.

Für die übergroße Mehrheit der von uns im Dienst der deutschen Faschisten überfallenen Völker waren es vielmehr »Tage des Sieges«, auch für die aktiven deutschen Widerstandskämpfer! Denn, sofern sie in diesen Tagen aus Konzentrationslagern, Gefängnissen und Illegalität tatsächlich befreit wurden, war diese Befreiung für sie doch der Sieg ihrer eigenen Sache, ihrer Freunde und Genossen.

Für die meisten Deutschen aber waren diese Tage, das merkte ich schon bald nach meiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im Hochsommer 1945, Tage der »Kriegsniederlage Deutschlands«, keine Freuden-, sondern Trauertage, und das je länger desto mehr!

Für diejenigen, die sich im ernstlichen Sinne des Wortes durch den Sieg der Anti-Hitler-Koalition vom Faschismus befreit fühlten, begann nun eine Periode der Selbstbefreiung von den präfaschistischen und faschistoiden Rückständen in auch ihrem Bewußtsein. Dabei reiften sie aus bürgerlichen Antinazis zu Antifaschisten. (...)

Erinnere ich mich an die Geschichte dieser Befreiung, muß ich es anders sagen: Denn das, was ich als Paradoxie der Befreiung hinter Stacheldraht erlebte, folgte ja aus einer Paradoxie, die vorangegangen war: die Existenz fast eines ganzen Volkes nicht in Gefangenschaft und doch in Unfreiheit.

Die Mehrzahl der Deutschen hatte sich allerdings, solange die Blitzkriege der Nazis zu deutschen Blitzsiegen führten, im allgemeinen keineswegs unfrei gefühlt im Lande der »nationalen Erhebung« und der Konzentrationslager, der »nationalsozialistischen Volkswohlfahrt« mit ihrem »Eintopfsonntag« und den Maximalprofiten der Konzerne, die sie gar nicht zur Kenntnis nahm.

Tatsächlich war diese Mehrheit so unfrei, daß sie gar nicht bemerkte, wie sehr sie sogar die Freiheit, selber zu denken, verloren hatte, in diesem Sinne des Wortes die »Gedankenfreiheit«. Ich erinnere mich, daß ich (das muß etwa 1942 gewesen sein) einen Freund im Bibelkreis der Bekennenden Kirche auf die Konzentrationslager ansprach und er entschieden bestritt, daß es so etwas gäbe, um dann, ohne den Selbstwiderspruch auch nur zu empfinden, zu schließen: »Wenn du so weiter redest, kommst du selbst hinein!«

Das war ja das deutsche Verhängnis gewesen: Je freier Menschen waren, desto mehr drohte ihnen Verhaftung und Tod. Und je unfreier sie waren, je williger sie sich den Nazis angepaßt hatten, insbesondere je bereitwilliger sie mit ihnen und für sie in den Krieg gezogen waren, sich immer selbst belügend, es ginge um Freiheit und Ehre ihres Vaterlandes und nicht etwa um »ukrainischen Weizen und kaukasisches Öl« (Originalton Goebbels), desto weniger hatten sie sich unfrei gefühlt. Während sie selbst geknechtet andere knechteten, zuerst die deutschen Kommunisten, Sozialisten und Demokraten, dann die Schwächsten, die sie wie die deutschen Juden, Sinti und Roma als »fremdrassig« ausstießen, und schließlich fast alle europäischen Völker, grölten sie ihr Lied: »Nur der Freiheit gehört unser Leben!« Das war die faschistoide Verfälschung der Freiheit in zügellose und verantwortungslose Willkür, wie sie sich bis heute fortsetzt in Parolen wie »Freiheit oder Sozialismus!« und in der Rede von »freiheitlicher Demokratie«. Wie anders klingt da Bonhoeffers: »Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht.«

Die Paradoxie der Freiheit hinter Stacheldraht, die ich damals empfand, war nur die natürliche Kehrseite dieser »Freiheit« zur Knechtung anderer, dieser Unfreiheit ohne Stacheldraht, zu der die herrschenden Klassen in Deutschland die Mehrheit der Deutschen durch Demagogie verführt, durch Terror gezwungen und durch Korruption bestochen hatten, bis dahin, daß dieses Volk sich schließlich schon deshalb nicht mehr selbst zu befreien wagte, weil es fürchtete, nach der Kapitulation seiner »Wehrmacht« genannten und als ehrbar geltenden Räuberbande würde ihm mit gleicher Münze heimgezahlt.

Wie sehr diese als ehrbar geltende Wehrmacht eine Räuberbande war, das hatte ich selbst als Okkupant in Italien gesehen, nicht nur im kleinen, wenn wir »ehrlichen deutschen Soldaten« den italienischen Bauern Feldfrüchte und Hühner stahlen (manchmal nur Mundraub, um nicht zu hungern, oft aber Kompensation eigener Ohnmacht durch Machtdemonstration gegen Schwächere), sondern vor allem im großen, im kriminellen Ausmaß der Kriegsverbrechen, die sich keineswegs nur die SS leistete. Wenn ich die »zur Abschreckung« an den Telegraphenmasten erhängten Partisanen hatte sehen müssen, hatte ich sie beinahe darum beneidet, daß sie wenigstens in einem guten Kampf für die Befreiung ihres Landes gefallen waren. Aber der Mut, ihrem Beispiel zu folgen, statt ihnen allenfalls heimlich zu helfen, fehlte mir.

Wir deutschen Soldaten hatten unser Leben täglich von den Hitlers, Himmlers und Görings (und zwar für die Interessen der Krupps, Kirdorfs und Stinnes, aber das sah ich damals noch nicht!) einsetzen und uns zu dem zwingen lassen, was sie Mut und Tapferkeit nannten. Aber der wirkliche Mut, uns selber einzusetzen, statt uns einsetzen zu lassen, und so aus Kriegsknechten zu Freiheitskämpfern zu werden, hatte uns gefehlt. Das meine ich mit der Unfreiheit ohne Stacheldraht.

(...)

Hanfried Müller: Erfahrungen, Erinnerungen, Gedanken - Zur Geschichte von Kirche und Gesellschaft in Deutschland seit 1945.

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