Zu diesem Heft

Das Heft beginnt mit einer Predigt von Dieter Frielinghaus zum Schluß des Matthäus­evangeliums, der Aussendung der Jünger durch den Auferstandenen in Galiläa.

Darauf folgt eine theologische Disputation: Gert Wendelborn formuliert in seinem Beitrag Konsens und Dissens seine kritische Anfragen, ob die WBl nicht politisch überlastig seien und anthropologische existentielle Fragen zu sehr vernachlässigten. Darauf versucht Hanfried Müller, unter einer leichten Verschiebung des Themas, zu antworten: Ja und Nein! Konsens im Dissens und Dissens im Konsens. Dabei handelt es sich zwar um ein Gespräch unter Theologen, aber um ein solches, bei dem der Bezug der Theologie auf den seit dem Verfall der bürgerlich-klassischen Philosophie immer mehr um sich greifenden, ursprünglich existential-anthropologischen Subjektivismus im Zentrum des „Dissenses“ steht; wir hoffen, daß das auch diejenigen unserer Leser interessieren könnte, die weder Christen noch Theologen sind.

Seit langem schulden die WBl Hans Heinz Holz eine Resonanz auf sein Angebot, mit Theologen über Dialektik zu disputieren. Das Thema ist umfangreich und schwierig. Darum werden wir erst darauf zurückkommen können, wenn wir von dem Druck des periodischen Erscheinens der WBl entlastet sind. Vielleicht ist es aber in Vorbereitung auf diesen Disput anregend, an ein Gesprächsangebot von theologischer Seite an dialektische Materialisten zu erinnern, das in den 70er Jahren in der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität artikuliert wurde und ebenfalls bisher keine Resonanz gefunden hat: an Gedanken Hanfried Müllers zur Stellung von Christen zum Thema Religion und Religionslosigkeit. (Ursprünglich im Exkurs zu seiner Dogmatik im Überblick enthalten und für diesen Nachdruck in den WBl vom Autor leicht gekürzt.)

Zu aktuellen politischen Fragen gehen wir mit dem Aufsatz von Kurt Gossweiler Der unsterbliche Frühsozialismus über. Dann widmen wir zwei Beiträge der rasanten Vollendung der Umwandlung der PDS in eine bürgerliche „Reform“-Partei à la „Sozialdemokratie“. Wolfram Trillers Überlegungen nach dem Sonderparteitag der PDS. Was jetzt tun? erreichte uns etwas zu spät, um noch im Heft 1/03 Platz zu finden. Zwar ist die Programmdebatte in der PDS inzwischen weitergegangen, aber genau in der Richtung, in die auch jener Sonderparteitag bereits wies, und so erscheinen sie uns in keiner Weise überholt. Robert Steigerwalds Warnung Drei Illusionen. Über Erfahrungen mit Marxismus & Pluralismus in der PDS und Spalter-Vorwürfe gegenüber Kommunisten wird leider den Verfall der PDS nicht aufhalten. Aber sie sollte desto mehr von all denen beachtet werden, die immer noch in der Selbsttäuschung befangen sind, die PDS biete eine wirksame Alternative zur imperialistischen Restauration. Der Artikel erschien erfreulicher Weise im offiziellen Parteiorgan der DKP, der UZ.

Daran schließen wir eine Dokumentation an: Die Rede, in der Fidel Castro anläßlich des 50. Jahrestages des Sturms auf die Moncada auf die Entstehung des sozialistischen Kuba in der noch revolutionären Periode der Mitte des vorigen Jahrhunderts zurückblickt. Wir fanden sie so wichtig, daß wir sie (obgleich schon hier und da auszugsweise veröffentlicht) noch einmal zu durchgängiger Lektüre anbieten. (Dabei haben wir die ad-hoc-Übersetzung, die uns ein Teilnehmer der Veranstaltung in Havanna mitbrachte, sprachlich leicht überarbeitet.)

Es folgen einige Nachdrucke zur Diskussion mit und unter Sozialisten:

Zunehmend erkennen antifaschistische Kräfte in Deutschland, daß sich in den imperialisti­schen Hauptländern der Primat von wirtschaftlichen Profit- gegenüber politischen Gesamt­interessen immer mehr durchsetzt, die veröffentlichte Meinung immer demagogischer gleichgeschaltet, die Massen immer mehr korrumpiert und innen- und außenpolitisch immer militaristischer terrorisiert werden, so daß jeder wirksame Widerstand zunehmend paralysiert wird - wie im Faschismus! Dennoch empfinden sie, daß es nahezu eine Verharmlosung wäre, eben diese Erscheinung „neofachistisch“ zu nennen, so wie es eine Verharmlosung der NSDAP war, wenn man sie nur als Fortsetzung und Eskalation reaktionärer, restaurativer und monarchistischer Bestrebungen verstand. Wir fanden, die Artikel von Manfred Weißbecker, Möglichkeiten und Grenzen für die Anwendung des Faschismusbegriffs auf heutige Zeiten und von Hans-Jochen Vogel, Der abgewürgte Streik, könnten könnten mit ihrer gewissen Spannung untereinander in diesem Zusammenhang sehr bedenkenswert sein und übernahmen sie darum gerne aus der jungen Welt und aus Ossietzky.

In die, vor allem unter westdeutschen Kommunisten, seit längerem umstrittene Frage, ob es einen „globalen Imperialismus“ als so etwas wie einen monolithischen Block gäbe oder ob der Imperialismus nach wie vor von inneren Widersprüchen geprägt sei, griff Kurt Gossweiler mit seinem Diskussionsbeitrag gegen die Positionen Leo Mayers bei der Tagung der Marx-Engels-Gesellschaft in Wuppertal ein: Lenin oder Kautsky?

Zu dem im letzten Heft begonnenen Gespräch mit Wolfgang Clausner bringen wir dessen Antwort: Ein ganz falscher Halbsatz. Erwiderung auf eine Rückfrage sowie einen Briefwechsel zwischen Kay Müller und dem Herausgeber der WBl dazu. Auf die interessanten Fragen, die Clausner zur politischen Verantwortung der Kirche (oder der Unverantwortlichkeit ihres poli­tischen Handelns) aufwirft, soll Hanfried Müller im nächsten Heft Stellung nehmen.

Der Toten aus ihrem Herausgeberkreis gedenken die WBl in aller Regel, indem sie noch einmal deren eigene Stimme laut werden lassen, so wie in diesem Heft die Stimme Winfried Maechlers. Ihren verstorbenen Autoren widmen sie nur selten Nekrologe und so gut wie nie solchen, die weder zu den Kirchlichen Bruderschaften noch zum Autorenkreis der WBl gehörten. Eine solche Ausnahme ist Peter Hacks. Zwar ist es höchst zweifelhaft, ob ihm ein Nachruf in den WBl, die er mit dem ihm eigenen polemischen Charme für ein dem „Herz-Jesu-Sozialismus“ verbundenes Blättchen hielt, recht gewesen wäre. Aber souverän, wie er in einem in Deutschland seltenen Maße war, hätte er sicher mit einer freundlich-boshaften Anmerkung, die wir nun leider nie mehr hören werden, akzeptiert, daß wir seinen Freund Eberhard Esche gebeten haben, ihm einen Nachruf auch in den WBl zu widmen. Und wir danken Eberhard Esche, daß er unsere Bitte erfüllt hat.

Der erste und letzte Autor in diesem Heft begehen in den nächsten Wochen ein Jubiläum. Eberhard Esche wird am 25. Oktober 70 und Dieter Frielinghaus am 14. November 75 Jahre alt. Beiden gelten unsere Wünsche für alles irdische und himmlische Gute und die Hoffnung, sie möchten unseren Gegnern zu deren Ärger noch lange standhaft und wirksam wie bisher im Wege stehen.


Predigt

am 27. Juli 2003 in der Kirche Brüssow über Matthäus 28, 16-20

von Dieter Frielinghaus

 

Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf einen Berg, dahin Jesus sie beschieden hatte.

Und da sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; etliche aber zweifelten.

Und Jesus trat zu ihnen, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes; und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.

Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

 

Das Evangelium nach Matthäus schließt ab mit diesen Worten. Die Jünger sind mit ihrem Meister wieder an ihrem Anfang.

Hier in Galiläa hatte alles begonnen. Hier zuerst hatte Jesus das Reich Gottes verkündet. Viele Menschen hatte er geheilt. Aus der Menge hatte er sich diese Fischer zu seinen engsten Jüngern gerufen. Die religiösen Oberen hatten ihm nachgestellt, nicht nur mit harten Streitgesprächen. Oft wich er ihnen aus außer Landes oder in einsame Gegenden. Seine eigenen Familienangehörigen verstanden ihn nicht. Seine Jünger erwarteten von ihm, daß er König werde. Sie glaubten und vertrauten ihm und auch wieder nicht. In der Stadt des Tempels endlich sollte er offenbar werden und siegen. Aber die Oberen hatten ihn zum Tode am Kreuz verurteilt und herrschten danach unangefochten weiter.

Und die Jünger befinden sich wieder fern vom Zentrum. Jesus hatte es ihnen sogar vorausgesagt und befohlen. Galiläa - im Vergleich bedeutet es nicht Berlin, sondern Brüssow, nicht USA, eher Afghanistan, und zwar nicht Kabul.

Bei Matthäus ist dies die einzige Begegnung des aus dem Tode auferweckten Jesus mit seinen Jüngern. Im Tempel und im Palast zu Jerusalem hat er sich nicht gezeigt. Dies soll für sein Leben nach der Kreuzigung ebensoviel bedeuten wie die Entsendung der Jünger nach Galiläa. Sie sind wieder am Anfang. Zurückgeworfen? Es liegt alles vor ihnen.

Der Lebendige tritt zu ihnen auf dem Berge, ein sinnfälliges Bild dafür, daß sie dem Himmel nähergekommen sind. "Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden." Was alle seine Gewalt im Himmel, bei Gott, bedeutet, kann wohl noch kein Mensch begreifen. Immerhin ganz anders als an den eben als Beispiel genannten Orten. Und daß ihm alle Gewalt auf Erden gegeben ist, können die Jünger ebensowenig sehen wie wir. Aber sie sehen ihn schon neu, klarer als sie bisher gesehen hatten. Der Berg weist nicht allein auf den Himmel, sondern auch auf die Bergpredigt. Da war Jesus ein wenig auf den Berg gestiegen, damit die Menge ihn besser hören und sehen und er sie sehen könne. Sie alle, und die Jünger waren um ihn. Nun, mit dem Auferweckten auf dem Berge, sollen sie auch die neu und klarer sehen, für die er lebt und denen seine Herrschaft dient: die Menschen in Galiläa in ihrer Not und Sehnsucht, wie er sie angesehen hat in Liebe und in Verheißung des Reiches Gottes. Ebenso sollen sie nun mit ihm ansehen alle Völker.

"Darum gehet hin und lehret alle Völker, indem ihr sie tauft im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und sie halten lehret alles, was ich euch befohlen habe."

Unsere Vorfahren im Glauben haben gemeint, und wir meinen wieder, wir könnten diesen "Missionsbefehl" auf eigene Rechnung ausführen. So machen wir ihn klein und verkehren ihn zugleich vollständig. Als Ziel und Inhalt der Taufe sehen wir zuerst die Mitgliedschaft in der organisierten Kirche an, und dann begnügen wir uns auch damit. Dies hat unsere Kirche nach der sogenannten Wende gerade wieder einmal gemacht. Wir machen es uns vielleicht nicht klar, dennoch suchen wir da schon wieder den Sieg nach unserer Vorstellung, also unseren Sieg. Das heißt Unterdrückung des Reiches Gottes durch Ausbreitung der Kirche mit Gewalt oder mit Hilfe fremder Gewalt und in einem Glanze, wie ihn irdische Kronen haben, Jesus aber auch als Auferweckter nicht hat.

Statt "lehret alle Völker" hat sich heute die Übersetzung "machet zu Jüngern alle Völker" eingebürgert. Ob so oder so, bei eigener Gewalt heißt Ausbreitung des Glaubens: Wir wissen, die anderen wissen nicht, wir stehen über ihnen. Es ist aber so, daß er weiß, dem alle Gewalt gegeben ist, wir aber zweifeln auch jetzt wie die Jünger auf dem Berge trotz aller Anbetung. Da Jesus Christus für alle Menschen gekreuzigt und auferweckt worden ist, belehrt er auch seine unverständigen Jünger. Er nimmt sie in sein Werk, in seine Taufe. Ihre Sorge und Selbstgerechtigkeit und vor allem ihr Hang zur Macht der Großen gegen die Kleinen muß und darf sterben, er nimmt sie in sein Leben hinein, in seinen Dienst zum Heil der Welt.

Eigentlich unverständlich, daß die Jünger angesichts solcher Begabung mit Gnade und Zukunft betreten bleiben statt zu frohlocken. Dies teilen wir mit ihnen. Anders als sie macht uns der damit ergehende ungeheuerliche Anuspruch kaum bedenklich. Nehmen wir ihn überhaupt wahr, schieben wir ihn sofort auf beispielsweise den Bischof. Wird er uns ungebraucht zurückgegeben, so mit der verführerischen Versicherung: Ganz nach eurem Belieben. "Lehret" - da müßten wir ja selber Lernende werden und bleiben.

Also "machet zu Jüngern". Das kann doch im Ernst nicht heißen, daß sie so werden sollten, wie wir jetzt sind. Es müßte doch heißen, daß sie erfahren, wie Jesus gesagt hat: "Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!" Wie können sie das erfahren, wenn sie solches Erbarmen an uns nicht erkennen - und wenn wir nicht bemerken, wie zynisch sie es empfinden müssen, wenn der eben zitierte Spruch über dem Portal einer Kirche in Gold prangt, die bei zahlreichen Gelegenheiten nur von geladenen Prominenten betreten werden darf, am Dom zu Berlin?

Dann können sie auch nicht vernehmen, daß die Herrlichkeit des Reiches Gottes gewiß größer, zunächst aber einfach anders ist als alle sonstige Herrlichkeit: die Herrlichkeit Gottes des Herrn unmittelbar für die Geringen. "Fürchte dich nicht, du kleine Herde", hat Jesus zu den Jüngern gesagt. Wie können wir das die Völker "lehren", wenn wir aber groß sein wollen vor ihnen. Und was tun wir Jesus damit an!

Und dennoch sagt der Lebendige: "Gehet hin!" Wir können es nicht mehr auf eigene Rechnung tun. Wir können uns aber auf seine Treue verlassen. "Denn es hat eurem Vater", sagt er, nicht euch "gefallen, euch das Reich zu geben" nach seinem reichen Herzen, nicht nach unserem engen Maß.

Dabei, sagt er unverhüllt, werden wir unser Teil an seiner Pein tragen. Wie wir aus dem Buche Jesaja (Kap. 43) gehört haben: Wenn du durch Wasser gehst, oder durch Feuer, "fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein". Wir müssen uns daran erinnern lassen, daß dieses Wort, ehe wir in persönlicher Not dazu Zuflucht nehmen, der kleinen Herde mit der großen Zukunft der Erniedrigten und Beleidigten gesagt ist.

Die Treue des Herrn ruft unsere Treue und trägt die Krone des Lebens. Alle denken bei dem Wort "Taufe" an einen feierlichen, bedeutsamen Ritus in der Kirche. Weit darüber hinaus aber meint die Taufe die Verbindung des Volkes Gottes in Geist und Leben mit seinem Christus im Leben und im Sterben. Wie Paul Gerhard singt (EG 112):

Ich hang und bleib auch hangen

an Christo als ein Glied;

wo mein Haupt durch ist gangen,

da nimmt er mich auch mit.

Er reißet durch den Tod,

durch Welt, durch Sünd, durch Not,

er reißet durch die Höll,

ich bin stets sein Gesell.

Dann meint die Lehre der Jünger weit über die Mitgliedschaft in kirchlicher Organisation hinaus die Ermutigung zu Werken des Lebens unter der Verheißung des Lebens unseres Herrn und Bruders Christus für die in der Hölle der Unterdrückung Gefesselten.

Ihnen und uns gilt das Wort des Auferweckten: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende." Wo wir uns am Ende wähnen, tritt er mit uns in das Tor des Lebens. Wir stehen am Anfang und haben alle Zukunft vor uns.


Konsens und Dissens

von Gert Wendelborn

In einem kurzen Kartengruß erwähnte Gert Wendelborn in Bezug auf die Positionsbestimmungen von Rosemarie Müller-Streisand und Hanfried Müller in den WBl seinen „Konsens und Dissens“Er äußerte den Wunsch, „einen tiefgründigen Dialog mit ihnen darüber eigentlich erst im Himmel (zu) führen, hoffend, dass wir ... allein durch Gottes grundlose Güte dorthin gelangen.“ Wir aber baten ihn, diesen Dialog doch bereits hier auf Erden zu beginnen, nicht nur gespannt, wie er seine Übereinstimmung und seine Bedenken gegenüber den WBl formulieren werde, sondern vor allem auch, damit andere dabei zuhören und sich vielleicht an diesem Gespräch beteiligen könnten. Freundlicher Weise erfüllte er unsere Bitte. - Red.

*

Als erstes ist nicht zufällig, sondern aus prinzipiellen Gründen vom Konsens zu sprechen. Ich lese die WBl von ihrem ersten Heft an und habe sie alle aufbewahrt, lese jede Zeile sehr genau und fast stets mit ganz vorrangiger Zustimmung. In der Tat, ein Renegat bin ich so wenig wie sie, vielmehr war ich auch nach der "Wende" stets um den "aufrechten Gang" bemüht, wohl wissend, dass die "Revolutionäre" des Herbstes 1989 damit nicht uns Altlinke meinten, die sie vielmehr lieber im Staube kriechend und um Gnade winselnd sahen. In meiner ersten öffentlichen Meinungsäußerung nach dem Systemwechsel redete ich so deutlich, dass die Redaktion jener linken Publikation sie unter die Überschrift "Ein Wendehals bin ich nicht" * setzte. Daran hat sich auch in den seitdem fast dreizehn vergangenen Jahren nichts geändert. Auch ich sehe mich links von der PDS, wenn ich sie auch immer noch wähle, schon um der von mir ver­ehrten Sahra Wagenknecht willen. Das bedeutet faktisch, dass ich nach wie vor auch als loyaler Bürger die Suche nach einer Alternative zur spätbürgerlichen Gesellschaft nicht aufgegeben habe und diese Gesellschaft zwar differenziert beurteile, aber nicht für den Normalfall menschlicher Gemeinschaftsgestaltung halten kann. Die Stichworte Frieden und soziale Gerechtigkeit deuten an, warum mir dies nicht möglich ist.

Auch theologisch verbindet mich mit R. und H. Müller sehr viel. Die Dogmatik und das Bonhoeffer-Buch Hanfried Müllers, das Luther-Buch von Rosemarie Müller-Streisand und einige kirchengeschichtliche und systematisch-theologische Vorträge und Aufsätze beider gehören zu meinen wichtigsten Leseerlebnissen. Mancher Dialog in der Kommission für Neue und Neueste Kirchengeschichte in Berlin und in ihrem gastfreundlichen Haus bestärkte mich in der Hinwendung zu ihnen. Das bedeutete schon in den 1980er Jahren Kampf. Die Parteileitung der CDU verstand das nicht und wollte mir die Publikation in den WBl verbieten. Aus Parteidisziplin unterwarf ich mich dem in gewissem Maße trotz bleibenden und auch öffentlich bekundeten Widerstandes. Hätte ich gewusst, wohin sich die CDU wenige Jahre später entwickelte, hätte ich schon damals einen klaren Trennungsstrich gezogen. Einen Tag nach dem Ende meines Volkskammermandats trat ich aus der CDU aus. Die erste Frage der "Ehren­kommission" meiner Rostocker Universität im Verhör, das zu meiner fristlosen Entlassung führte, lautete denn auch: "Warum sind Sie aus der CDU ausgetreten?", als ob in einem demokratischen Rechtsstaat nicht die Zugehörigkeit zu einer Partei allein Sache des Einzelnen wäre.

Anders als die meisten anderen Hochschultheologen entwickelte ich nie ein Feindbild "WBl", sondern blieb in vollem Maße offen und lernbereit, und ich denke, dass das reiche Früchte für meine nicht nur politische, sondern auch theologische Erkenntnis brachte. Ich sah mich genötigt, erhebliche Korrekturen an meiner bisherigen theologischen Überzeugung vorzunehmen, so vielfältig diese auch zuvor schon fundiert war. Auch für mich war der Glaube an Jesus Christus zu allen Zeiten nicht nur der Gegenstand eines beliebigen von drei Glaubensartikeln, sondern das Zentrum des christlichen Glaubens. Auch für mich war und ist der christliche Glaube nicht eine beliebige Spielart des Religiösen oder eine beliebige Form von Gläubigkeit. Mit "den Müllers" meine ich, dass es rechten und Irr-glauben gibt wie auch wahre und falsche Kirche. Darum stehe ich auch dem Staats- und Volkskirchentum so skeptisch gegenüber, zumal es in der Gegenwart immer gespenstischer wird. Ein Glaube zwecks Feierlichkeit oder Trost an den Höhe- und Tiefpunkten des Lebens hat für mich keinen Sinn, hat jedenfalls mit der Sache Jesu kaum etwas zu tun. Es ist meine feste Überzeugung, dass unser Glaube nur sinnvoll ist, wenn er das gesamte Leben ergreift und - immer neu, da der Christ nie einfach im Sein, sondern nach dem jungen Luther stets im Werden bleibt - zu einer neuen Existenz im Heiligen Geist im Zeichen der Liebe führt.

Als Kirchenhistoriker habe ich nun schon seit einem halben Jahrhundert Gelegenheit, die Geschichte der Kirche hieran zu überprüfen, und die Beschäftigung mit ihr war deshalb zwar stets interessant, aber oft auch schockierend. Unübersehbar war der Kontrast, ja der Gegensatz außer in Zeiten der Reformation und ungeachtet vieles redlichen Bemühens zu allen Zeiten. Ich lernte aber von "den Müllers", dass die Kirche jeder Konfession und eines jeden Zeitalters einzig an dem Auftrag gemessen werden kann, der ihr für alle Zeiten von Jesus und den Aposteln und damit vom Wort Gottes gegeben wurde. Meine langjährige Beschäftigung mit sehr unterschiedlichen alternati­ven Bewegungen des Mittelalters war bestrebt, kirchengeschichtliche Spuren rechten Kircheseins zu ergründen. Ich lernte daraus auch für meine persönliche Existenz, denn ich begriff, dass die Zeugen der Wahrheit in allen Kirchen in der Regel eine kleine Minderheit bilden, von der herrschenden Mehrheit verfolgt oder zumindest totge­schwiegen. Ich lernte diese schmerzliche Situation auszuhalten von Jesu Kreuz her. Hanfried Müllers so kurze und prägnante Feststellung: „Wir sehen den Gekreuzigten und glauben den Auferstandenen" war mir dabei eine besondere Hilfe. Ich lernte aber auch, dass meine christliche Lebensmaxime "Als die Sterbenden, und siehe, wir leben" (2. Kor. 6, 9) niemals aus eigener Wahl erfolgen kann, sondern dass hier ein Stärkerer sich durchsetzt. Dass sich gerade ein solches Leben lohnt, so dass man mit dem landläufigen nicht mehr tauschen möchte, stellt man staunend erst im Vollzug dieser neuen Existenz fest, wobei immer neu der Irrglaube an die verbreiteten Götzen, die so vieles versprechen, überwunden werden muss.

Ich könnte beim Konsens natürlich noch länger fortfahren, doch ich denke, das für mich Entscheidende ist gesagt. Warum gibt es dessen ungeachtet auch einen Dissens zu den WBl? Kommt hier nur meine zuvor teilweise überwundene Existenztheologie wieder zum Vorschein, so dass ich gar wie der Hund zu seinem Gespei zurückkehre? Ich persönlich vermag es natürlich nicht so zu sehen. Ich spürte im Lauf der Zeit bei der Lektüre der WBl immer stärker, dass manche mich gleichfalls leidenschaftlich interessierende Themen dort nie oder höchstens andeutungsweise ganz am Rande vorkommen. Natürlich weiss ich, dass keine Zeitschrift sich allem zuwenden kann. Aber es ist eben für den Kundigen auch beredt, worüber jemand schweigt. Es kann ihm offenbar nicht sonderlich wichtig oder jedenfalls nicht vorrangig sein. Es fiel mir auch bald auf, dass der theologische Teil der WBl immer geringer und der politische Teil immer ausufernder wurde. Selbstverständlich kann man dafür handfeste Gründe benennen, die auch mich überzeugen, etwa die Leserschaft oder das Fehlen geeigneter Autoren. Und doch! Ich könnte persönlich keine Zeitschrift herausbringen, die mit so wenigen theologischen und kirchengeschichtlichen Aussagen auskommt, obgleich, wenn sie sich finden, sie stets scharfsinnig, aus dem Rahmen der heutigen Kirchlichkeit fallend und also sehr bedenkenswert bleiben.

Anders gesagt: Der Stellenwert des Politischen ist für mich nicht ganz so hoch wie in den WBl, und das hängt nun eben doch mit meiner spezifischen Theologie zusammen. Als Arbeitersohn stieß ich kirchlich mit den letzten Ausläufern des Geistes von Theodor Kliefoth in meiner mecklenburgischen Heimat zusammen, nachdem ich durch die Junge Gemeinde geprägt wurde. Ich konnte nicht in solchem Maße wie R. und H. Müller schon in der Jugend von der Bekennenden Kirche geprägt werden, weil diese in meiner Landeskirche nicht von Barth, Iwand und Niemöller bestimmt wurde, sondern vom lutherischen Konfessionalismus, zugleich freilich auch, weil ich (gut) ein Jahrzehnt jünger als sie bin. Der lutherische Konfessionalismus war für mich bei starkem Interesse für den authentischen Luther so unbefriedigend, dass ich nach einer Alternative suchte und sie während meines Studiums in der Existenztheologie Rudolf Bultmanns und seines großen theologischen Umkreises von Ernst Käsemann über Gerhard Ebeling bis zu Herbert Braun fand. Dies war neben deren großem exegetischen Scharf­sinn auch dadurch bedingt, dass mich eine bestimmte Sehnsucht zum Glauben und dann auch zum Theologiestudium führte. Ich litt in der Nazizeit unter Gewaltkult und Lärm, zumal mein Vater politischer Häftling im KZ Sachsenhausen war und ich schon im April 1942 den Schrecken der Bombennächte persönlich erleben musste. Ich suchte eine Alternative für meine Lebensführung und stieß dabei auf den christlichen Glauben, der von Güte und von Nächstenliebe sprach.

Wenn ich in gewisser Hinsicht mich auch heute der Existenztheologie, die es als solche ja so wenig mehr gibt wie den Barthianismus, zugehörig und verpflichtet fühle, so hat das, wie ich heute weiß, mit dieser meiner Ausgangslage zu tun. Es geht mir nicht darum, die Theologie der genannten Denker insgesamt zu rechtfertigen. Manches bei ihnen - am wenigsten freilich bei Käsemann - mutet auch mich heute fremd an. Dass die meisten dieser Theologen in politischer Hinsicht dem bürgerlichen Establishment verhaftet blieben, ist natürlich auch mir wohl bekannt, von Heidegger zu schweigen. Die Politik ist auch für mich ungeheuer wichtig. Jeder, der mich kennt, weiß, dass das keine bloß theoretische Feststellung ist. Ich habe einen erstaunlich großen Teil meines Lebens der Politik gewidmet, und ich tat es in der Verantwortung meines Glaubens. Um der Politik willen, weil ich nämlich parteilich an der Seite der DDR und des Sozia­lismus stand, bin ich ein "Abgewickelter", also in gewisser Hinsicht lebenslang geächtet.

Dennoch hat die Politik für mich nicht denselben Stellenwert wie für die WBl. Dass ich Theologe blieb und nicht in der DDR hauptamtlich in die Politik ging, war eine prinzipielle Entscheidung. So wichtig geschichtliche Entwicklungen und die Spezifik der jeweiligen Gesellschaft sind, es gibt für mich Grundfragen des Menschseins, die relativ gleich bleiben. Man denke nur an das Verhältnis von Mann und Frau, von Eltern und Kindern, selbst von Älteren und Jüngeren. Man denke an gelingendes und sich verfehlendes Leben, an Lebenserfüllung wie Scheitern, an Freude wie Trauer, an Schuldigwerden und erfahrene oder nicht erfahrene Ergebung. Dieses Existentielle aber reicht nach meiner Lebenserfahrung tiefer als das bloß Politische, so gewiss es von diesem in geringerem oder stärkerem Maße mitbeeinflusst werden kann. Insofern könnte ich sogar mit Herbert Braun sagen, dass es mir nicht eigentlich um die Vokabel Gott geht - um seine Wirklichkeit natürlich sehr wohl - , sondern darum, dass die Sache des Menschen, seines geliebten Geschöpfes, gewahrt wird oder wiedererlangt wird. Die Theologie impliziert für mich stets auch eine Anthropologie, jedenfalls Grundbestandteile einer solchen. Wie es viele Spielarten des Glaubens gibt, so auch viele Spielarten des Atheismus. Ich stehe dazu, dass ich in der DDR mit Atheisten kooperierte, die sich für Humanisten hielten und in diesem Sinne Gesellschafts­gestaltung betrieben. Aber der Allerweltsatheismus der spätbürgerlichen Gesellschaft, der viel schwerer fassbar ist, mutet, wie ich schon mehrmals betonte, banal und inhu­man an. Auch wenn der Glaube nicht primär irdischen Zielsetzungen unterliegt, weil es in ihm zuvörderst um das Heil und erst dann auch um das Wohl des Menschen geht, sehe ich im rechten Glauben gerade auch in der Gegenwart eine große Hilfe, die Sache des Menschen nicht zu verraten. Die politische Linke redet von Menschenwürde im­mer nur als von dem, was von der jeweiligen Gesellschaft zu gewährleisten ist. Was sie dabei im Detail fordert, halte ich für völlig richtig. Aber Menschenwürde ist stets auch in unsere persönliche Verantwortung gegeben. Ich werde mich darüber in den Neuen Dialog-Heften in einem Aufsatz "Werte" detailliert äußern.

Auch ich weiß, dass die vorherrschende Lebensform einer Gesellschaft von deren jeweiligem Charakter geprägt wird. Können wir Christen sie aber deshalb gleichsam sich selbst überlassen? Müssen wir uns nicht kräftig einmischen um des Menschen willen? Auch ich übte in der DDR das, was Hanfried Müller revolutionäre Disziplin nannte, gelegentlich freilich seufzend, weil ich bemerkte, dass um mich herum dadurch auch viel spießbürgerlicher Untertanengeist gefördert wurde. Ich lernte sehr gern und in vielfältiger Hinsicht von meinen marxistischen Freunden. Aber es wäre mir lieb gewesen, wenn ich deutlicher auch hätte warnen, mahnen, auf ungelöste Probleme aufmerksam machen können. Positiv sagte ich es auch in meinen theologischen Publikationen oder deutete es doch an. Aber darauf gab es keine Reaktion. Selbstverständlich wollte auch ich kein Wasser auf klerikale Mühlen leiten. Aber es wäre sinn­voll, ja notwendig gewesen, von einer tiefgründigen Durchleuchtung der menschlichen Existenz her auch verständnisvoll-kritische Fragen an die sozialistische Gesellschaft zu stellen. Die Entwicklung der sozialistischen Demokratie war zweifellos auch objektiv schwierig und war im übrigen nicht nur die Angelegenheit der Regierenden, sondern auch des Volkes. Die, die abseits standen, gingen ja oft den bequemeren Weg, denn wieviel Zeit und Kraft die Wahrnehmung der politischen Verantwortung erfordert, weiß ich selbst am besten. Aber dass die sozialistische Demokratie in den Anfängen steckenblieb, ja retardierte (die dafür in den WBl genannten Gründe halte auch ich für richtig), hätte in viel stärkerem Maße beunruhigen müssen.

Von der christlichen Anthropologie, dem Wissen um unser aller Sündhaftigkeit her hätte viel mehr beachtet werden müssen, dass eine allzu große Machtkonzentration in Händen weniger stets Gefahren mit sich bringt. Warum durfte ein 1. Sekretär nicht mehr kritisiert werden? Fehlbar war auch er, und wenn er falsche Entscheidungen traf oder ein schlechtes Vorbild gab, waren die Auswirkungen besonders gravierend. Leider ist ja die Rede von den unter Stalin begangenen Verbrechen keine Erfindung unserer Feinde, so gewiss man auch ihn differenzierend beurteilen muss. Aber dass er offenbar mehr Kommunisten auf dem Gewissen hat als selbst Hitler, ist erschreckend. Wüsste jeder sozialistische Politiker, dass er auch angesichts harter Sachzwänge um der Humanität willen zu bestimmten Maßregeln nicht greifen darf, ja ist er selbst von warmer Liebe zu den Menschen erfüllt, kann es dazu niemals kommen. Deshalb bin ich sehr vorsichtig, bei einer solchen Feststellung mitleidig lächelnd von Humanitätsduselei oder Sentimentalität zu sprechen.

Was aber die spätbürgerliche Gesellschaft betrifft, so denke ich - vielleicht zum Ärger einiger Leser -, dass es in ihr auch gute, dem Menschen dienende Aspekte gibt, die sich letztlich aus der Aufklärung herleiten. Der bürgerliche Freiheitsbegriff hätte nicht so viele Anhänger, wenn er nicht auf beträchtliche individuelle Möglichkeiten auch zu sinnvoller Lebensgestaltung in großer Variationsbreite hinweisen würde. Trotzdem habe ich in dieser Gesellschaft anders als in der DDR das fast gnostische Gefühl des Fremd- und Unbehaustseins. Die großen Problembereiche Frieden und soziale Gerechtigkeit nannte ich bereits. Sie brauchen hier nicht entfaltet zu werden, da in diesem Punkt zwischen uns wohl volle Übereinstimmung besteht. Aber mein Widerspruch gegen diese Gesellschaft greift tiefer, als dass er allein politisch benannt werden könnte. Es geht mir um das, was das Leben lebenswert macht, und um die darauf von dieser Gesellschaft und ihren meisten Medien gegebenen Antworten. Ich widerspreche ihr al­so auch um dessen willen, was sie in den Seelen der Menschen anrichtet: durch Rückwendung vom Wir zum Ich, durch Gemeinschaftsfeindlichkeit, Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der anderen, Karrierismus und Bereicherung auf Kosten anderer, Beschränkung auf das Streben, immer mehr zu haben, statt mehr zu sein an menschlicher Substanz und Ausstrahlungsfähigkeit, fehlende Liebe und Wärme, Reduzierung von Liebe auf Sex, Gewaltkult, Verführung zwecks Gewinnmaximierung, Manipulierung von Menschen und Oberflächlichkeit. Auch dies muss uns unbedingt beschäftigen, denn auch hier sind die Gefahren riesengroß, Gefahren, die das Menschsein als solches betreffen.


Ja und Nein! Konsens im Dissens und Dissens im Konsens

Versuch einer Anwort an Gert Wendelborn

von Hanfried Müller

Lieber Herr Wendelborn,

auch ich beginne damit, daß ich einen Konsens zwischen uns feststelle, nämlich (nicht ohne einen Hauch Ironie, den Sie mir bitte nicht übel nehmen wollen), zunächst den Konsens über unseren Dissens, den wir beide darin sehen, welche Bedeutung wir der Anthropologie, der Existenz, dem „Existentiellen“ und den „Existentialien“, für den Glauben und in der Theologe einräumen.

Ich finde allerdings, der Dissens schimmert auch bereits darin durch, wie Sie im Eingang Ihres Artikels unseren Konsens beschreiben Sie tun das nämlich viel subjektiver, als ich es täte.

Dabei spielt in und vor allen theologischen und politischen Übereinstimmungen und Un­terschieden, wie mir scheint, auch eine Differenz, wenn ich so sagen darf, in unserer persönlichen Mentalität eine Rolle: Sie empfinden es als Belastung, wenn Sie in der Minderheit sind oder gar allein stehen. Mir geht es umgekehrt: wenn ich allgemeinen Beifall finde (was ja nicht allzu oft geschieht), frage ich mich, ob ich nicht etwas falsch gemacht habe. Ich habe sozusagen apriori ein nur schwer überwindbares Mißtrauen gegenüber Mehrheitsmeinungen, insbesondere in der Kirche und in Deutschland. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß ich im faschistischen Deutschland „sozialisiert“ und in einer immer schwankenden bekennenden Kirche „christianisiert“ worden bin. Hinter einigem von dem, was Sie völlig richtig als Dissens zwischen uns beschreiben, steckt wohl auch dieser Unterschied. Und darüber kann man kaum streiten. Ihn muß man aushalten.

Ich will keine anschaulichen Formulierungen von Ihnen auf eine begriffliche Goldwaage legen. Aber schon in Ihrem ersten Absatz wirkt sich aus, daß Sie viel stärker auf Personen als auf die Sache sehen als ich, zum Beispiel, wenn Sie politische Parteien weniger aufgrund ihrer ökonomisch-sozial-politischen Konzeptionen (und Politiker jeglichen Geschlechtes weniger aufgrund ihrer Parteinahmen) als vielmehr im Blick auf Personen und ihre Intentionen beurteilen (z.B. die PDS im Blick auf Sahra Wagenknecht statt Sahra Wagenknecht im Blick auf die PDS). Ich könnte das allenfalls verstehen, wenn ernstlich zu hoffen wäre, daß Sahra Wagenknecht ihre Partei zu ändern vermöchte; ich aber sehe nur, wie sehr die PDS sie zu verändern vermag.

Daß mir so manches, was linke Freunde von mir (ich setze das Wort linke hier ohne auch nur den Gedanken an Anführungszeichen!) hoffnungsvoll finden, illusionär erscheint, hängt sicher auch damit zusammen, daß ich, wenn ich an diese „spätbürgerliche“ Gesellschaft denke, nicht so moderat von Loyalität sprechen kann wie Sie. Denn sie hat den Kapitalismus der freien Konkurrenz mit seiner in vielerlei Weise noch progressiven Phase als demokratische Gesellschaft längst hinter sich und nur noch eine Kulmination des dem Monopolkapitalismus entsprechenden Imperialismus vor sich, und alles spricht dafür, daß sie bald noch reaktionärer und inhumaner sein wird, als der Faschismus es war. Da kann es Loyalität für mich nur noch gegenüber den in dieser Gesellschaft Ausgebeuteten, Manipulierten, Unterdrückten geben, aber nicht mehr im Blick auf diese Gesellschaft insgesamt, so wie sie von den sozial Verantwortunglosesten in ihr strukturiert („geordnet“ kann man schon lange nicht mehr sagen!) wird.

Auch unseren theologischen Konsens beschreiben Sie - inhaltlich stimme ich dem völlig zu! - viel „personalisierter“ als ich es täte, wenn ich dasselbe zu sagen versuchte.

Wir haben das nie reflektiert, aber es ist wohl kein Zufall, daß meine Frau ihr Buch „Von der Reformation zur Restauration“ zwar in Bezug auf Luther verfaßt hat und ich mein Buch „Von der Kirche zur Welt“ zwar in bezug auf Bonhoeffer geschrieben habe - Karl Barth meinte damals sogar in einem Brief an mich, ich hätte den Bezug auf Bonhoeffer besser weggelassen (allerdings wäre ich es dann in Deutschland nie als Dissertation los geworden), - uns beide aber eine geschichtliche Verschiebung von Kräfteverhältnissen (bei Luther rückwärts, bei Bonhoeffer vorwärts) viel mehr faszinierte als die Personen, als das Individuell-Existentielle.

Mißverstehen Sie mich bitte nicht! Gewiß haben gerade im Rahmen der Kräfteverhältnisse auch Personen in der Geschichte ihren - zuweilen sogar bestimmenden - Platz. Und außerdem: fast nichts macht Geschichte langweiliger, als wenn sie so beschrieben wird, als sei sie nur die Illustration vom Weltgeist vorgegebener Programme und Analysen. Wenn ich mit erheblicher Besorgnis vor einem zunehmenden Subjektivismus in der Geschichtsschreibung zurückschrecke, bin ich mir doch dessen bewußt, daß ihr ein Objektivismus, in dem die Geschichte nur wie der Vollzug eines ihr vorgegebenen Weltplanes erscheint, oft ebenso geschadet hat. Gerade im Blick auf die Geschichte kommt es auf die richtige Wahrung der Dialektik von Subjekt und Objekt an, und es ist kaum ein Zufall, daß die Menschheit die bisher höchste Stufe der Dialektik gerade im Blick auf ihre Geschichte entwickelt hat, weil ihr hier dieser widersprüchliche Zusammenhang von Objekt und Subjekt schon im Gegenstand der Forschung selbst begegnet.

Schließlich noch ein Bedenken zu Ihrem ersten Teil, das ich vielleicht sogar Ihnen, sicher aber vielen Lesern unseres Disputes, nur schwer verständlich machen kann:

Mir ist unbehaglich, wenn Sie so unbefangen als Kriterium nennen, daß unser „Glaube nur sinnvoll sei, wenn ...“ Ich verstehe sehr wohl, daß der Akzent Ihrer Aussage auf der Fortsetzung liegt: „... wenn er das gesamte Leben ergreift“. Aber hat der Glaube wirklich einen Sinn? Gewiß ist er auch keineswegs „sinnlos“. Aber ist „Sinn“ ein Begriff, der sinnvoll auf den Glauben bezogen werden kann? Liegt dafür „Sinn“ und „Zweck“ nicht allzu eng beieinander? Bekommt der Glaube damit nicht ein „um zu ...“, so daß man sagen könnte: „ich glaube, weil ...“, um dann nicht etwa in dem Sinne fortzufahren „der Heilige Geist mich dazu überwunden hat“ oder: „weil ich nicht anders kann ...“ - so wie ich da bin, weil ich geschaffen bin -, sondern „weil ich mir dies oder jenes davon verspreche“ - sei es das Selbstloseste, Edelste, Höchste ... ? Geht das angesichts der neutestamentlichen Zeugnisse? Ich weiß, wie schwer eine richtige Antwort auf diese Frage zu formulieren ist. Das „ich“ im „ich glaube“ kann und darf nicht untergehen, aber es muß doch die Spontaneität behalten, die es im naiven „ich bin“ hat, die Selbstverständlichkeit, die in gewisser Weise alles andere als selbstverständlich ist, nämlich daß der Glaube wie das Dasein für mich allem anderen vorgegeben ist, ein Geschenk, das ich empfangen habe, ohne es auch nur ergriffen zu haben, etwas, das nicht darum „gut“ ist, weil es „zu etwas“ gut ist. - Der Glaube - er allein! - bedarf keiner Rechtfertigung, weil er eine unmittelbare Gabe Gottes ist: in diesem Sinne ist er „an sich gut!“ - In diesem Sinne könnte man auch sagen: „an sich sinnvoll“! Aber dann verbietet dieses „an sich“, den Sinn von etwas abhängig zu machen mit dem Zusatz „wenn er das ganze Leben ergreift“. Er tut das. Täte er es nicht, wäre es nicht der Glaube, der gemeint sein sollte, wenn Christen das Wort benutzen.

Auch wenn Sie schreiben, „daß sich gerade ein solches Leben“ - „als die Sterbenden und siehe, wir leben“ - „lohnt“, ist mir unbehaglich. Fragt man denn, wenn man in dem Sinne, wie Paulus das meint, als Sterbender lebt, „ob sich das lohnt“? Ich habe den Eindruck, nicht nur Paulus, sondern das ganze NT, aber Paulus wohl besonders pointiert, denkt viel mehr als wir reflektierende Theologen unter dem Vorzeichen: „nunmehr lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir“ - und soweit das denn geschähe, verschwände das Interesse an diesem „Ich“, das mit Christus begraben ist, und das wir alle - Sünder in Wirklichkeit, Gerechte in der Hoffnung! - nicht vergessen können.

*

Mit dem allen wollte ich nur in meinen Worten den Konsens zwischen uns unterstreichen. Bevor ich zu Ihrem zweiten Teil komme, füge auch ich einen kurzen Blick auf unseren Werdegang als Theologen ein.

Zweifellos sind wir alle Kinder unserer Geschichte. Und wenn Sie Ihre - darf ich einmal so sagen - in meinen Augen zu geringe Immunität gegen Subjektivismus, Existentialismus und Pietismus in der Theologie selbst darauf zurückführen, daß Sie sich in Ihrer mecklenburgischen Heimatkirche aus der Leichenstarre Kliefothscher „Orthoxie“ lösen mußten, ist mir das durchaus begreiflich. Andererseits sehen Sie die Situation in der sogenannten „zerstörten“ und gerade dank dieser Zerstörung in lebhaften Kämpfen lebendigeren altpreußi­schen Union, in der meine Frau in Berlin und ich im Rheinland von „jungen Brüdern“ („Schwestern“ gab es nur sehr vereinzelt, wo Pfarrvikarinnen an die Stelle eingezogener Männer traten) erzogen wurden, wohl allzu rosig. Eine von Barth, Iwand und Niemöller geprägte „bekennende Kirche“ gab es auch dort nicht, statt dessen aber nach 1945 (im Rheinland unter etwas günstigeren Kräfteverhältnissen als in Berlin, wo Dibelius nun ge­genüber den „Russen“ die Fortdauer des Burgfriedens erzwang, der schon in der Nazizeit die Wahrheitsfrage auch in der Bekennenden Kirche immer wieder erstickt hatte) einen kurzen kräftigen Kirchenkampf, nun nicht mehr um das Thema: ‘Gleichschaltung oder Eigenständigkeit?’, sondern - wie es die württembergische Sozietät mit ihrer ersten Publikation nach der Befreiung formulierte - „Restauration oder Neuanfang?“

So wie Sie zum Theologen wurden, indem Sie sich aus der Kliefothschen „Orthodoxie“ lösten, so wir, indem wir vom Klerikalismus der BK frei wurden, und zwar durch die „Schulddebatte“, die es so, nämlich gerade als Frage nach der Schuld der Kirche am Faschismus, in Ostdeutschland kaum gegeben hat und die in Berlin fast nur vom Unterwegskreis, zu dem meine Frau gehörte, ausgefochten wurde. Sie kulminierte für mich, als die Bonner Studentengemeinde mit einem selbst formulierten Schuldbekenntnis den Studen­tenpfarrer, einen deutschnationalen BK-Veteranen, der nach unserer Meinung in Sachen „Schuldbekenntnis“ nicht „stand“, absetzte (drei oder vier Studenten und die rheinische Kirchenleitung blieben ihm treu), ein eigenes Presbyterium bildete und Günther Dehn bat, ihr ihre Bibelstunden zu halten. Die rheinische BK-Kirchenleitung mit Joachim Beckmann an der Spitze tat alles, um die „kirchliche Ordnung“ zu wahren, Heinrich Held „vermit­telte“ vergeblich, und die Studentengemeinde stand - noch ganz unausgegoren, aber immer am kirchlich antinazistischsten Flügel - zu Barth und Niemöller, oft recht pharisäisch, aber in jedem Fall „orthodox“ - was ungefähr bedeutete, einerseits ein bißchen barthianischer als Barth, anderseits stark geprägt von Hermann Diem und Paul Schempp, und auf jeden Fall so, daß wir keinen Moment den Anspruch preisgaben, die legitime bekennende Kirche, das wären wir.

Nun aber zu Ihrem zweiten Teil, dem Dissens. Ich sehe ihn wie Sie in zwei Punkten.

Zum einen in der Frage nach dem „Stellenwert des Politischen“, wie Sie es formulieren. Ich möchte sie allerdings zunächst allgemeiner fassen, nämlich als Konkretion der Frage nach Glauben und Werk.

Zum anderen in dem, was Sie mit Begriffen wie „Grundfragen des Menschseins“, „gelin­gendes und sich verfehlendes Leben“, „Lebenserfüllung und Scheitern“, kurz als „dieses Existentielle“ oder als „die Sache des Menschen“ beschreiben. Auch hier würde ich zunächst allgemeiner sagen: die Frage nach der Bedeutung der Subjektivität im Evangelium, man könnte wohl auch sagen: die Frage nach Gottes Wort und menschlichem Individuum.

Dabei sehe ich den Unterschied zwischen uns keineswegs im Wesentlichen darin, daß der eine der ethischen und menschlichen Seite in diesen Begriffspaaren mehr und der andere weniger Bedeutung beimäße. Es gibt ja Zeiten, in denen Sie dem einen oder anderen unserer Freunde und Feinde viel „politischer“ erschienen als ich (nicht ganz zufällig waren ja Sie in Ihrem Leben zuweilen „politisch organisiert“, ich nicht), in mancherlei Weise aber erschien auch ich zuweilen - und zumal in der Gegenwart - vielen viel „politischer“ engagiert. Darauf kommt es aber offenbar auch gar nicht an. Wir sind beide theologisch und politisch engagiert. Aber offenbar unterscheiden wir uns darin, wie sich theologische und politische Existenz zu einander verhalten und wie wir sie miteinander verbinden. Ich zum Beispiel empfinde gar keine Notwendigkeit, sie miteinander zu verbinden. Meine unteilbare Existenz ist sowohl politisch-gesellschaftlich als auch theologisch-kirchlich. So sehr, daß mir eine Reflexion über ihr Verhältnis zueinander, als wären es zwei Existenzen nebeneinander, kaum gelingt.

Zum Beispiel denke ich, man könnte nahezu jede zentrale biblische Aussage in einem gewissen Sinne sowohl „ethisch“ als auch „dogmatisch“, sowohl „theologisch“ als auch „anthropologisch“, sowohl „ekklesiologisch“ als auch „politisch“ formulieren. - Und ich nehme einen Punkt, wo ich einen Unterschied zwischen uns vermute, in einem vierten Glied dieser Aufzählung etwas leichtsinnig formuliert vorweg, indem ich dabei an Dietrich Bonhoeffer erinnere: Man kann auch jede zentrale biblische Aussage sowohl „religiös“ als auch „weltlich“ artikulieren. - Jesus macht es uns in vielen Gleichnissen vor.

Die entscheidende Frage, finde ich, greift tiefer: Um auch das sehr abstrakt vorwegzunehmen: sie besteht darin, ob immer das Wort der Schöpfer und das Unsere seine Schöpfung bleibt. Ist, wo von unserem „Tun“ und also „ethisch“ (auch von unserem politischen Handeln) gesprochen wird, er es, der die Werke gibt? Ist, wo von unserem „Sein“ (auch von unserer gesellschaftlichen Existenz) die Rede ist, er es, der dies Sein gibt? Nur so bleibt unser Sein und Tun immer ein Wert für unsere Nächsten und für uns und wird nie zu einem von uns geschaffenen Wert - weder für uns noch für andere.

Aber wem sage ich das? Sie kennen ja Luther viel besser als ich, und nicht zuletzt beim jungen Luther habe ich ja gerade das gelernt. Allerdings finde ich gerade das in Ihrer Wolke von Zeugen, Bultmann, Braun, Ebeling und so weiter - wie um Gottes Willen oder um alles in der Welt gerät bei Ihnen Käsemann unter diese (falschen) Propheten?! - nicht wieder. Da ist Gott nicht Subjekt, sondern Prädikat unseres Lebens, das „Woher unseres Umgetriebenseins“, und wir sind nicht Teil der Welt, berufen zu Herrn der Erde, auf der wir als Gottes Zeugen als die Sterbenden leben sollen, sondern wir sollen uns „entweltlichen“. Das kommt doch immer wieder beim Existenzialismus, dem Irrationalismus und Subjektivismus in der Theologie heraus: die Flucht vor der sozialen Wirklichkeit in die private Existentialität bürgerlicher Asozialität.

Genau das wollen doch auch Sie nicht! Warum fixieren Sie sich dann immer noch oder wieder so auf diese Verfallserscheinung bürgerlicher Ideologie, statt davon unabhängig nach der christologischen Einordnung des Glaubenden in die Gemeinde, nach der rationalen und materialistischen Einordnung des Subjektes in die Gesellschaft zu fragen?

Ich halte den Existentialismus samt seinem Anthropologismus und seiner „Geschichtlichkeit“, mit seiner Verführungskraft zum Irrationalismus und der Raffinesse, mit der er sich der Gefahr entzieht, als subjektiver Idealismus durchschaut zu werden, sowohl für ein ganz wesentliches Instrument der „Zerstörung der Vernunft“, als auch zur Paralyse der Theologie in einer „entweltlichten“ Lebenphilosophie, die den Glaubenden immer wieder vom Wort - als dem in diesem Sinne dem Glauben Gegenständlichen - auf einen nicht einmal „religiösen“, sondern eben „extentiellen“ Selbstbezug zurückzuwerfen droht.

Warum knüpfen Sie so vieles, was Ihnen wie mir mit Recht auf den Nägeln brennt, an den Subjektivismen von „Existentialen“ an, statt an der Objektivität der Welt und die Rationalität menschlicher Vernunft? Das Pauluswort vom „vernünftigen Gottesdienst“ ist doch keine leere Worthülse, sondern ein damals zeitgemäßer Ausdruck für das, was wir zwei Jahrtausende später mit dem Begriff der „mündigen Welt“ zu erfassen versuchten.

Und zu dieser mündigen Welt gehört ein gewaltiger Schuß Rationalismus und Materialismus! Er ist nicht zuletzt durch den Sieg der Konterrevolution - aber der Kampf gegen ihn ist nie erlahmt - besiegt, aber doch nicht widerlegt. Unter der Wirkung dieser Niederlage gibt es begreiflicher Weise viel Resignation, aber das Richtige wird doch nicht falsch, weil derzeit anscheinend keiner von uns eine wirksame Methode findet, es durchzusetzen. Es wird uns nichts anders übrig bleiben, als unsere Wunden leckend, sorgfältig prüfend, was wir richtig (das darf man nicht einfach auslassen!) und was wir falsch gemacht haben, alles zu tun, um unseren Enkeln (oder, wie ich fürchte, erst unseren Urenkeln) zu helfen, es noch einmal und dann besser zu machen.

Dann passieren uns - darf ich das so rücksichtslos sagen - auch nicht solche Pannen, wie Ihnen am Schluß Ihres Beitrags mit Stalin, der „offenbar mehr Kommunisten auf dem Gewissen hat als selbst Hitler“ und mit dem „bürgerlichen Freiheitsbegriff“, der „nicht so viele Anhänger“ hätte, „wenn er nicht auf beträchtliche individuelle Möglichkeiten ... hinweisen würde.“

Was Stalin betrifft: Er ist für mich wirklich nicht sakrosankt. Und vielen meiner Freunde, die ihn zuweilen in den WBl loben, möchte ich dasselbe wie Ihnen sagen: konzentriert Euch nicht allzu sehr auf die Persönlichkeiten in der Geschichte, sondern auf die Kräfteverhältnisse, die sie zum Ausdruck bringen, die sie mitbestimmen, von denen sie aber auch selbst bestimmt werden. Wenn man aber Stalin nur für das verantwortlich sein läßt, für das er wirklich verantwortlich ist, dann bleibt wie bei den meisten „großen Männern“ in der Geschichte, deren „Charakterbild in der Geschichte“ „von der Parteien Haß und Gunst verwirrt“ schwankt, Positives und Negatives übrig - und in dieser Dialektik gilt ihm mein Respekt im Blick auf das, was er unter kaum vorstellbaren Schwierigkeiten und Härten für die Entwicklung der Sowjetunion geleistet hat als auch insbesondere für den erheblichen Anteil, den er am Sieg über den Faschismus hatte. - Daß Sie aber auch den „bürgerlichen Freiheitsbegriff“ so undifferenziert loben, wie Sie Stalin tadeln, könnte für die Positions­bestimmung in der Gegenwart wohl noch verhängnisvoller sein. Er ist doch in sich un­gemein widersprüchlich; er enthält von Rationalismus und Aufklärung her einerseits viel mehr als „beträchtliche individuelle Möglichkeiten“; solange ihn der revolutionäre Elan der Bourgeoisie prägte und er inhaltlich auf Befreiung aus feudalen Bindungen zielte, hatte er einen imponierenden sozialen Inhalt; der ging verloren in dem Maße, in dem die Bourgeoisie sich gegen die sie überholende proletarische Freiheitsbewegung wandte, und was dann von ihm übrig blieb, war jene „Freiheit des Individuums“ die sich nun „postmodern“ in „Love-Paraden“ austobt und damit diejenige allgemeine Asozialität artikuliert, deren die heutige Bourgeoisie bedarf, damit noch eine Handvoll Manager des Kapitals Millionen Menschen für humane Interessen blind machen, beherrschen und zu nahezu jedem Verbrechen verleiten können.

*

Zuletzt noch zu Ihrem Unbehagen, „daß der theologische Teil der WBl immer geringer und der politische immer ausufernder wurde“. Auch ich bemerke, wenn ich die Weißenseer Blätter vom ersten Heft in Frühjahr 1982 bis in die Gegenwart durchsehe, daß die kirchlich-theologischen Themen hinter den gesellschaftlich-politischen immer mehr zurückgetreten sind, und es wäre mir lieber, wenn - wie ich es formulieren würde - erkennbarer wäre, daß dabei Theologie und Politik für mich zusammengehören wie Glauben und Tun. Mindestens ebenso allerdings bekümmert mich, worauf Sie gar nicht zu sprechen kommen, nämlich daß die gesellschaftlich-politischen Themen allzu oft bedrückend rückwärtsgewandt, statt -bahnbrechend vorwärts gewandt behandelt werden. Ich wünschte mir, daß der „Optimismus, der die Zukunft niemals dem Gegner läßt“, von dem Bonhoeffer einst sprach, in den Zeilen der WBl unverkrampfter, selbstverständlicher und deshalb stimulierender sichtbar wäre und zur Wir­kung käme.

Beides, das Zurücktreten theologischer Reflexion und der Übergang von der Offensive zur Defensive auf gesellschaftlichem Gebiet beruht zweifellos vorrangig darauf, daß die euro­päische Konterrevolution im Ausgange der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts viele gesellschaftlich vorwärtsweisende Kräfte in eine tiefe Resignation gestürzt hat, um nicht von Agonie zu sprechen. Ich fand und finde es gut, daß die WBl die Niederlage derer, die die Welt zum Guten verändern wollten, geteilt und zugleich das Notamt wahrgenommen haben, dem nun ungehemmt um sich greifenden (um es vielleicht für unsere „weltlichen“ Leser etwas rät­selhaft, aber kurz zu sagen) Mammonismus nicht nur aus geistigen, sondern dafür grundlegend aus geistlichen Gründen zu widerstehen. Daß Christen in der Nazizeit das Schicksal von Antifaschisten geteilt und dem Nazitum zum Teil bis in den Tod widerstanden haben, war für viele Antifaschisten ein hörbareres Zeugnis als so manches frommes Geschwätz von „neu­tralen“ (von den deutschchristlichen ganz zu schweigen) Kanzeln.

So kam es auch 1989 zuerst darauf an, standzuhalten, und der Widerstand selbst war, wie an so vielen Stellen der Bibel die Verweigerung derer, die ihre Knie den Baalim nicht gebeugt haben, das eindeutigste christliche Zeugnis. In der flagranten Konterrrevolution konnte die erste Parole auch nicht lauten „vorwärts!“, sondern nur: „keinen weiteren Schritt zurück!“.

Indem sie sich so zu verhalten versuchten, wurden die WBl aus gutem biblischen Grund, nämlich, den Mund aufzutun für die Stummen (Spr. 31,8), zu einem Mund der mundtot Gemachten. Und eben das war der Grund und die Folge einer erheblichen Verschiebung ihrer Akzentuierung von kirchlich-theologischen auf gesellschaftlich-politische Themen. Das hielt und halte ich für gut! Zu „weltlich“ sind mir die WBl dabei nicht geworden.

Und ich halte es auch für gut, daß sie diese „Weltlichkeit“ durchgehalten haben, ohne in eine vergangene Religiosität oder in deren gegenwärtiges Surrogat zurückzufallen, das Bonhoeffer seinerzeit „als säkularisierte Ableger der christlichen Theologie, nämlich die Existenzphiloso­phie und Psychotherapeuten“ verspottet hat (und die „Anthropologen“ hätte er noch gleich dazu zählen können).

Mit dieser Berufung auf Bonhoeffer, denke ich, bin ich nahe an einem Unterschied unserer theo­logischen Ausgangsposition: Bei Ihnen liegt sie in gewisser Weise noch immer bei Bultmann mit seiner „existentialen Interpretation“ der christlichen Botschaft. Bei mir hingegen bei der nicht-religiösen - nun eigentlich nicht „Interpretation“, sondern - Existenz, die ich nicht nur bei Bon­hoeffer kennen gelernt habe, sondern schon vorher bei Hermann Diem, Paul Schempp, Karl Barth, die alle „zweisprachig“ waren: Was man theologisch in ihrer Dogmatik las, fand man weltlich in ihren politischen Schriften: So stand Barths „Schweizer Stimme“ neben der „Kirchlichen Dogmatik“ und Bonhoeffer hatte eben dies auf den Begriff gebracht: „Nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus - im Unterschied wohl zu Johannes dem Täufer - Mensch war.“ Von daher hatte er den Gedanken der „Diesseitigkeit des Christentums“ entwickelt: „Ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt“ - und das gehört dann zusammen mit der „Religionslosigkeit des mündig gewordenen Menschen“ in der mündigen, der religionslosen Welt: „Gott läßt sich von uns im Menschlichen dienen.“

In der Hoffnung, daß Sie Lust zu einer grundsätzlichen Antwort verspüren, für deren Nachdruck Ihnen die Weißenseer Blätter immer offen stehen                   Ihr Hanfried Müller


 Religion, Religionslosigkeit - und evangelische Religionskritik

von Hanfried Müller

Der folgende Text enthält eine gekürzte und überarbeitete Fassung von Gedanken, die ich Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts für Berliner Theologiestudenten ausgearbeitet und dann als Exkurs meiner Dogmatik im Grundriß 1 beigefügt hatte. Seitdem haben sich die Verhältnisse erheblich geändert. In den imperialistischen Ländern ist die Religion noch weiter abgestorben; die bürgerliche Religionslosigkeit ist wie auch ihr Widerpart, die verbürgerlichte Religion, noch mehr der „Zerstörung der Vernunft“, dem Agnostizismus und Subjektivismus verfallen, und was in den einst so­zialistischen Ländern ein come back erlebt, ähnelt zwar dem, was US-Präsidenten wie Reagan und Bush so nennen, hat aber mit dem, was z.B. noch ein Schleiermacher unter Religion verstand, kaum noch etwas zu tun. Es ist nur noch Etikettenschwindel. Nicht verändert aber hat sich das Evangelium (das heißt die „gute Botschaft“) von der Selbsterniedrigung Gottes zum Menschen, die jedem Versuch von Menschen, sich zu Gott zu erheben, aller Religion, entgegen steht und anders, aber nicht weniger als bürgerliche Aufklärung und dialektischer Materialismus religionskritisch ist. - H.M.


I.    Zum Begriff der Religion und ihrem Selbstverständnis *

Es wäre sicher praktisch und erwünscht, diese Überlegungen mit einer Definition dessen zu beginnen, was hier unter "Religion" verstanden werden soll. Es könnte aber auch verwirren, denn in gewisser Weise hat der bürgerliche Religionswissenschaftler van der Leeuw recht mit seiner Bemerkung: "Die Zahl der Definitionen ist ungeheuer. Jede einzelne ist charakteristisch, wenn nicht für Religion, so doch für die Epoche, in der sie entstanden ist." 1

Diese Erkenntnis darf nicht dazu mißbraucht werden, überhaupt auf eine Definition von Religion zu verzichten oder den Begriff so zu relativieren, daß er je nach Bedarf modifiziert werden kann. Aber van der Leeuws Erkenntnis hat einen rationellen Kern: nicht nur die Religion, sondern auch das Religionsverständnis und mithin die Religionsdefinition wie auch die Religionskritik haben ihre Geschichte.

Es macht einen erheblichen Unterschied aus, ob eine bestimmte Religion sich selbst definiert und dabei mit dem subjektiv-speziellen Anspruch ihrer Absolutheit die Grenze des Begriffs so eng faßt, daß sie fremde religiöse Phänomene aus dem Begriff der Religion ausschließt, indem sie allein sich selbst und das ihr religiös Annehmbare als wahre Religion gelten läßt und alles andere als falsche Religion bestreitet 2 ; oder ob eine allgemein-religiöse Selbstdefinition mit dem subjektiv-generellen Ziel religiöser Integration alles Religiösen in allen Religionen die Grenze des Begriffs so weit zieht, daß sie unter Umständen auch nichtreligiöse Phänomene religiös deutet und in ihren Begriff aufnimmt, indem sie, wie sie das Universum selbst religiös erfassen will, zugleich die Religion universal faßt; oder ob schließlich "Religion" nichtreligiös, objektiv, kritisch von außen definiert und bereits mit der Definition kritisiert wird - und dies wiederum auf der einen Seite wissenschaftlich-weltanschaulich im Blick auf ihre gesellschaftliche Funktion und geschicht­liche Entwicklung, ihr historisches Entstehen und Vergehen, auf der anderen Seite aber theologisch (der sichtbaren Erscheinung nach also selbst religiös, von außen betrachtet als religiöse Selbstkritik erscheinend) im Blick darauf, daß in religiöser Weltanschauung Menschen sich Geschöpflichem als vermeintlich Göttlichem unterwerfen, um so des Numinosen Herr zu werden und massiver oder sublimer transzendental sich selbst, ihre Seligkeit zu finden und zu gewinnen.

Religionskritik - wissenschaftliche wie theo­logische - wird nicht nur die Religionen, son­dern auch religiöse Selbstdefinitionen kritisch sehen und ihrerseits Religion kritisch definieren. Ehe auch wir dies tun, fragen wir aber nach einer, den Erfordernissen einer sowohl umfassenden als auch präzisen Definition möglichst nahekommenden religiösen Selbstdefinition.

Dabei stoßen wir auf die Bestimmung des Begriffs der Religion durch Schleiermacher, die in ihrer Art als klassisch gelten darf. Sie wird meist in der ungenauen Form zitiert, Religion sei das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Wörtlich lautet sie in der ersten Auflage der Glaubenslehre (1821): "... das Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig fühlen von Gott"3 .

Definiert wird die "Frömmigkeit". Und so gewiß dieser Begriff für Schleiermacher ohne Zweifel mit dem der Religion zusammengehört, sollte man doch diese Wortwahl in der Glaubenslehre nicht völlig ignorieren. In den Reden über die Religion heißt es demgegenüber: Anschauen des Universums ... ist die allgemeinste und höchste Form der Religion ..., woraus sich ihr Wesen und ihre Grenzen bestimmen lassen ... alles einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion. ... Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drückt ihre Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus, aber über dem Sein dieses Gottes vor der Welt und außer der Welt grübeln, mag in der Metaphysik gut und nötig sein, in der Religion wird auch das nur leere Mythologie, eine weitere Ausbildung desjenigen, was nur Hilfsmittel der Darstellung ist, als ob es selbst das Wesentliche wäre."4 So "begehrt" die Religion "nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus der Kraft der Freiheit und göttlicher Willkür des Menschen es fortzubilden und fertigzumachen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl."5

"Reden" und "Glaubenslehre" Schleiermachers sind durch eine über zwanzigjährige Entwicklung getrennt, trotzdem aber gehören beide Bestimmungen zusammen:

Erstens die vergleichsweise objektive der Frühzeit, die die "Religion" gänzlich auf die Unmittelbarkeit bezieht, in der das Universum angeschaut wird, und die Religion abgrenzt gegen jeden vermittelten Bezug zum Universum, sei es seiner Vermittlung durch den reflektierenden Intellekt, das Denken, sei es seiner Vermittlung durch den sittlich-tätigen Akt, das Handeln. Dabei faßt Schleiermacher das Universum als deus sive natura (Gott oder die Natur) und ist sich seines Spinozismus stolz bewußt: "Opfert mit mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen, verstoßenen Spinoza."6

Und zweitens die vergleichsweise subjektive Definition der Spätzeit, die die "Frömmig­keit" bestimmt durch die Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins, durch das Gefühl schlecht­hinniger Abhängigkeit im Unterschied zum "Freiheitsgefühl", welches (darin unterschieden vom Abhängigkeitsgefühl der Frömmigkeit gegenüber Gott, das unbedingt ist)  stets reflektierend und tätig, intellektuell und sittlich das Verhältnis des Menschen zur Welt mitbestimmt 7 .

In der Frage nach dem "Unbedingten" - d. h. "schlechthinnig"! - als dem "Woher" unseres selbsttätigen Daseins klingen - hier viel tiefer, progressiver und optimistischer als bei den Epigonen - jene Bestimmungen der Religion an, die noch hundertfünfzig Jahre später im Verfall des religiösen Sozialismus und Liberalismus charakteristisch sind.

Mit dem Beginn jener Epoche, in der sich das Absterben der Religion ankündigt, weil sie praktisch gesellschaftlich überholt wird, jener Epoche, in der die Arbeiterklasse beginnt, die Geschichte bewußt zu lenken, in der bereits die bürgerliche Naturwissenschaft die Religion grundsätzlich in Frage stellt und die materialistisch-dialektische Geschichtswissenschaft sie theoretisch widerlegt, gelangt sie, gleichsam auf ihrem Sterbebett, in Schleiermacher als dem eigentlichen "Klas­siker der Religion" zu voller Klarheit über sich selbst.

Gewiß kann man gegen diese Behauptung, daß in Schleiermacher das Selbstverständnis der Religion überhaupt in der Selbsterkenntnis ihres Wesens quer durch alle ihre widersprüchlichen konkreten Erscheinungen kulminiere, einwenden, es sei hier doch sehr konkret das Christliche bei Schleiermacher, das das Allgemeine der Religion durch seine Besonderheit überlagere, und es sei doch sogar noch konkreter und enger der Protestant Schleiermacher, der eben als solcher hier die Religion begrenze, indem er ihr Wesen bestimme. Unbestritten wäre Schleiermacher undenkbar ohne die Geschichte des Christentums, in der er verwurzelt ist; nicht zufällig ist ja der Zentralpunkt seiner Glaubenslehre eine Christologie; und unbestritten hat Möhler, ein führender katholischer Theo­loge in der Zeit der Romantik, recht, wenn er meint, in der neueren Zeit habe Schleiermacher sich als echter Protestant erwiesen, indem er alle sittlichen und religiösen Momente über Gebühr getrennt habe, und wenig später sehr richtig feststellt: "So wenig kannte die protestantische Orthodoxie sich selbst! Bei allen Abweichungen in Einzelheiten ist mir Schleiermacher der einzige echte Jünger der Reformatoren"8 .

Das ist richtig, wenn man auf die Unterscheidung von Religion und Ethik, die Negation natürlicher Theologie und die Legitimation natürlicher Moral, die Trennung von Religion und Metaphysik, die Differenzierung von Theologie und Philosophie in der Methode, die Verwerfung der Gottesbeweise, die Ausmerzung des "Freiheitsgefühls" gegenüber Gott und dessen Betonung im Weltverhältnis des Menschen sieht und den expliziten, so zentral treffenden Vorwurf gegen den Katholizismus im Ohr hat, "daß, indem alles der Kirche beigelegt wird, Christo die ihm gebührende Ehre entzogen, und er in den Hintergrund gestellt, ja er selbst gewissermaßen der Kirche untergeordnet werde" 9.

Unbestritten ist es ein protestantischer Christ, in dem hier die Religion am Ende ihrer möglichen Entwicklung so tief und umfassend zum Bewußtsein ihrer selbst kommt.

Weil das so ist, könnte man nun aber auch - so wahr doch der Katholizismus die eigentliche geschichtliche Erscheinungsform der Re­ligion als Christentum und des Christentums als Religion ist - die Frage an Möhler zurückgeben: So wenig kennt der Katholizismus sich selbst, daß er in der Universalität Schleiermacherscher Religiosität nicht seine theologia naturalis, in der Integrationsfähigkeit von Schleiermachers Theologie, Philosophie und Ethik nicht seine coincidentia oppositorum, in Schleiermachers Beziehung vom unendlichen Werden des endlichen Seins und dem göttlichen unendlichen Sein des Universums nicht seine eigene Lehre von der analogia entis, in Schleiermachers Begriff von der "Empfänglichkeit" nicht seine eigene These von der Kapazität des Menschen für Gott, in Schleiermachers optimistischer und kontemplativer Anschauung des Universums nicht seine eigene Vorstellung von der visio beata wiedererkennt?

Nur wer in historischer Kurzsichtigkeit vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht, kann verkennen, daß Schleiermacher, soweit das innerhalb der Religion überhaupt möglich ist, religiös umfassend (und natürlich in der Abstraktion das Konkrete nicht nur bewahrend und erhebend, sondern auch negierend) die Religion in ihrem Wesen wesentlicher erfaßt hat als alle deskriptive bürgerliche Religions­phänomenologie mit ihrem Agnostizismus dies vermochte.

Im Verständnis der Religion weitergehen kann nur die Kritik der Religion: die Betrachtung von außen, die die Religion erklärt, indem sie sie widerlegt, und widerlegt, indem sie sie erklärt - geschehe dies wissenschaftlich, indem sie Religion historisch erklärt aus ihrer gesellschaftlichen Basis, oder geschehe dies theologisch, indem sie die Religion erklärt aus dem auf die Ewigkeit zielenden, sich selbst transzendierenden, keineswegs nur mo­ralisch verstandenen Selbst-Sucht des Sünders.

Von beiden so gegensätzlichen kritischen Ansätzen her wird die optimale Reife des Selbst-Verständnisses der Religion bei Schlei­ermacher objektiv bestätigt: Oder ist nicht das "Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" und die Identifikation des Universums mit Gott ein Angelpunkt wissenschaftlich-welt­anschaulicher Religionskritik, wenn sie Re­ligion als phantastische Widerspiegelung der Abhängigkeit der Menschen von nicht durchschauten und beherrschten Mächten in Natur und Geschichte erklärt? Und ist nicht das "fromme Selbstbewußtsein" und die Identifikation Gottes mit dem Universum ein Angelpunkt in evangelisch-theologischer Religionskritik, wenn sie Religion als den Willen von Sündern, sich in eigener Frömmigkeit und Gerechtigkeit mit Gott zu versöhnen und dazu die Welt oder ihren Inbegriff zu vergöttern, erklärt und kritisiert?

Wenn wir im folgenden nach der Kritik und Erklärung der Religion von außen fragen, werden wir darum diese Selbstdarstellung der Religion, die wir Schleiermacher verdanken und die als Selbstbestimmung auch Selbst­begrenzung, als Selbstdefinition auch Selbstkritik der Religion ist, im Auge behalten. Sie ist fruchtbarer Gegenstand der Kritik, weil sie den Hauptschwierigkeiten der Definition von Religion in hohem Maße gerecht wird.

Denn sie hat die Weite, deren der Begriff bedarf, um historisch verwendbar zu sein und alle religiösen Phänomene der Geschichte zu umfassen. Dabei ist allerdings Schleiermachers Definition nicht frei von dem der Religion als solcher eigentümlichen Universalitätsanspruch, der sich in einer Selbstdefinition natürlich durchsetzt. Er zeigt sich in dem - von Schleiermacher nicht theologisch, sondern anthropologisch begründeten - religiösen Apriori. Positiv wirkt aber wiederum, daß Schleiermachers Definition die notwendige Bestimmtheit enthält, deren der Begriff bedarf, um systematisch verwendbar zu sein. Schleiermacher gelingt in hohem Maße die schwierige Abgrenzung der Religion vom Idealismus, mit dem sie sich so gern verbindet, und ihre Abgrenzung von Sittlichkeit und Ethik, mit denen sie so gern im religiösen Ethos, von Sitte getragen und die Sitte beherrschend, verschmilzt. Und letztlich umfaßt seine Definition gleichermaßen die subjektive wie die objektive Seite der Frömmigkeit, Religiosität und Religion, religiöses Selbstverständnis (gefaßt unter dem Begriff des "schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls") und religiöses Weltverständnis (gefaßt unter der religiösen Bestimmung des Begriffs "Uni­versum")

Es geht um eine Spannung zwischen dem subjektiven und objektiven Moment der Religion, die heute auf der Basis imperialistischer Gesellschaft in der Agonie der Religion allgemein zu krisenhafter Spaltung führt. So treten denn zunehmend auseinander:

1. das, was man die "objektive" Religion nennen könnte, die auch in der bürgerlichen Gesellschaft sichtbar abstirbt, und zwar darum, weil es einer religiösen Widerspiegelung der Produktivkräfte in einer Gesellschaft nicht mehr bedarf, die auf Grund ihrer ökonomischen Bedürfnisse nach Produktivität zwecks Rentabilität die naturwissenschaftliche Erkenntnis so fördert, daß Naturwissenschaft und Technik eine wirkliche Beherrschung der Natur so weit gewährleisten, daß deren Kräfte nicht mehr als unerkannte und unbewältigte Gottheiten oder göttliche Kräfte ins Jenseits projiziert werden müssen, und

2. das, was man die "subjektive" Religiosität nennen könnte, die in der untergehenden bürgerlichen Gesellschaft um so wilder wuchert, und zwar darum, weil es noch zu einer religiösen Widerspiegelung der Produktionsverhältnisse kommen kann in einer Gesellschaft, die zum Zweck der Erhaltung der sie begründenden Eigentumsverhältnisse die wissenschaftliche Erkenntnis und gesellschaftliche Veränderung der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Ordnung behindert, die sich ideologisch gegen den Fortschritt der Gesellschaftswissenschaft, vor allem gegen den wissenschaftlichen Sozialismus abgrenzt und die kleinbürgerlichen Massen in einer historischen Unbildung hält, die zu religiöser Reflexion eigenen Elends und eigener Wünsche verleitet.

Wie im Grundwiderspruch des Kapitalismus die Wurzel für seine allgemeine Krise liegt, so liegt auch in ihm die Wurzel der religiösen Krise, die sich sehr lebhaft in den Widersprüchen moderner Theologie auswirkt, die zwischen Repristinationen religiöser Weltanschauung und Rückzügen in die Innerlichkeit religiösen Selbstverständnisses bis hin zur unmittelbaren Widerspiegelung des religiösen Selbstwiderspruchs im Begriff einer "atheistischen Theologie" schwankt. Die Tendenzen sogenannter "atheistischer Theologien" lassen sich verstehen aus der Disproportion eines schnelleren Absterbens der vergleichsweise "objektiven" religiösen Welt-Erklärung und eines langsameren Dahinsiechens des subjektiven religiösen Selbstverständnisses. Ebenso lassen sich die Tendenzen der Rückwendung zu allgemeiner Religion und Gottgläubigkeit, die alle Entwicklungen der evangelischen Theologie in den letz­ten 50 Jahren einfach negieren, als der illusionär-reaktionäre Versuch begreifen (in einem salto mortale im eigentlichen Sinne des Wortes), auszubrechen aus der Krise, in der die Religion mehr verfault als stirbt. Sowohl wissenschaftliche, nicht in Aufklärung steckenbleibende, sondern sich in gesellschaftlichem Fortschritt bewährende Religionslosigkeit als auch evangelische Freiheit von und gegenüber der Religion, die sich nicht in gesetzlicher Religionsnegation erschöpft, wirken in verschiedener Weise diesem Fäulnisprozeß entgegen, in dem Menschen vorsätzlich Illusionen, die sie als solche durchschauen, zum Gegenstand ihres Glaubens und ihrer Propaganda machen.

II. Zur wissenschaftlichen Religions­kritik

Dialektisch und materialistisch versteht der Marxismus Religion als verkehrtes Bewußtsein, das einem verkehrten gesellschaftlichen Sein entspricht. Religion wird als Widerspiegelung der Klassengesellschaft erklärt und zugleich als Widerspiegelung der Klassengesellschaft negiert, in dialektischer Einheit materialistisch definiert, kritisiert und überwunden. So wird sie als historisch notwendig entstanden begriffen und zugleich, dank der Einsicht in den historisch begrenzten Charakter ihrer Notwendigkeit, die Notwendigkeit ihres Absterbens erkannt. Die Religion wird in ihrem gesellschaftlichen Wesen erkannt, indem konkret gezeigt wird, wie sie aus den Bedürfnissen einer Gesellschaft entsteht und die Bedürfnisse einer Gesellschaft befriedigt, die die Kräfte der Natur und Gesellschaft nicht völlig rational zu erkennen vermag, weil sie sie nicht im Interesse aller lenken und beherrschen kann. So wird die Religion nicht bürgerlich intellektualistisch und individualistisch beschränkt einseitig als intellektueller Irrtum oder Betrug aufgefaßt, sondern ihr weltanschaulicher Charakter als adäquate Widerspiegelung einer unvernünftigen Weltordnung in unvernünftig-phantasti­schen Ideen wird in der Wechselwirkung mit ihren praktisch-konkreten gesellschaftlichen Funktionen durchschaut.

So hat die religiöse Weltanschauung eine Unterdrückungsfunktion, insofern die je herr­schende Klase sich ihrer bedient, um angesichts der sozialen Ungerechtigkeit in der von ihr geführten Gesellschaft die unterdrückte Klasse mit dem Ausblick auf eine ausgleichende Gerechtigkeit im Jenseits zu vertrösten und zugleich die Lücken ihrer Justiz zu schließen mit dem Hinweis auf einen Richter im Jenseits, der auch verborgene Auflehnung verfolgt.

Zugleich aber hat die religiöse Weltanschauung eine Protestfunktion, dann nämlich, wenn die je unterdrückte Klasse das ins Jenseits projizierte Ideal der Gerechtigkeit zur Norm der Gerechtigkeit im Diesseits erhebt und versucht, das "göttliche Recht" revolutionär-utopisch gegen die gesellschaftliche Ungerechtigkeit durchzusetzen.10

Unterdrückungs- und Protestfunktion der Re­ligion treffen sich in ihrer Trostfunktion, je nachdem, ob diese Funktion mehr darin besteht, daß die herrschende die unterdrückte Klasse von ihrem Elend im Diesseits auf ein besseres Jenseits vertröstend ablenkt, oder darin, daß die Unterdrückten sich selbst dessen getrösten, das von ihnen im Kampf um soziale Gerechtigkeit im Diesseits erstrebte Recht sei ewiges, göttliches Recht, ihr Kampf darum ein heiliger Kampf und sie selbst darum in diesem Kampf letztlich unbesiegbar.

In jener Leichtigkeit und Klarheit, die sich einstellt, wenn eine Frage so beantwortet ist, daß mit dieser Antwort das Problem gelöst und erledigt ist, hat Friedrich Engels 1876 die Religion im gleichen Atemzug umfassend definiert und kritisiert:

"Nun ist alle Religion nichts anderes als die phantastische Widerspiegelung, in den Köpfen der Menschen derjenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mäch­te die Form von überirdischen annehmen. 11 In den Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der Natur, die diese Rückspiegelung erfahren und in der weiteren Ent­wicklung bei den verschiedenen Völkern die mannigfachsten und buntesten Personifikationen durchmachen ... Aber bald treten neben den Naturmächten auch gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit, Mächte, die den Menschen ebenso fremd und im Anfang ebenso unerklärlich gegenüberstehen, die sie mit derselben scheinbaren Naturnotwendigkeit beherrschen, wie die Naturmächte selbst.12 Die Phantasiegestalten, in denen sich anfangs nur die geheimnisvollen Kräfte der Natur widerspiegelten, erhalten damit gesellschaftliche Attribute, werden Repräsentanten geschichtlicher Mächte. Auf einer noch weiteren Entwicklungsstufe werden sämtliche natürlichen und gesellschaftlichen Attribute der vielen Götter auf einen allmächtigen Gott übertragen, der selbst wieder nur der Reflex des abstrakten Menschen ist. ... In dieser bequemen, handlichen und allem anpaßbaren Gestalt kann die Religion fortbestehen als unmittelbare, d. h. gefühlsmäßige Form des Verhaltens der Menschen zu den sie beherrschenden fremden, natürlichen und gesellschaftlichen Mächten, solange die Menschen unter der Herrschaft solcher Mächte stehen. Wir haben aber mehrfach gesehen, daß in der heutigen bürgerlichen Gesellsachaft die Men­schen von den von ihnen selbst produzierten Produktionsmitteln wie von einer fremden Macht beherrscht werden. Die tatsächliche Grundlage der religiösen Reflexion dauert also fort, und mit ihr der religiöse Reflex selbst. ... Es heißt noch immer: der Mensch denkt und Gott (das heißt die Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) lenkt. Die bloße Erkenntnis, und ginge sie weiter und tiefer als die der bürgerlichen Ökonomie, genügt nicht, um gesellschaftliche Mächte der Herrschaft der Gesellschaft zu unterwerfen. Dazu gehört vor allem eine gesellschaftliche Tat. Und wenn diese Tat vollzogen, wenn die Gesellschaft durch Besitzergreifung und plan­volle Handhabung der gesamten Produktionsmittel sich selbst und alle ihre Mitglieder aus der Knechtung befreit hat, ... wenn der Mensch also nicht mehr bloß denkt, sondern auch lenkt, dann erst verschwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt, und damit verschwindet auch die religiöse Widerspiegelung selbst, aus dem einfachen Grunde, weil es dann nichts mehr widerzuspiegeln gibt". 13

Der Erklärung und Widerlegung der Religion aus ihren gesellschaftlichen Wurzeln, wie sie der wissenschaftliche Sozialismus zu geben in der Lage war, ist eine lange Geschichte der Religionskritik und des Atheismus vorangegangen, die den höchsten Punkt der ihr möglichen Entwicklung in der bürgerlichen Aufklärung erreichte und - schon hart auf der Grenze des Umschlags in historisch-materia­listisch-dialektische Religionskritik - ihren geradezu klassischen Vertreter in Ludwig Feuerbach fand. Indem der entstehende Marxismus sich von ihm differenzierte, setzte er seine Religionskritik und seinen Atheismus zugleich von allen anderen historischen Vorgängern in der Kritik der Religion ab.

Die Religionskritik der Aufklärung ist ambivalent wie die historische Rolle des Bürgertums selbst, in dessen Interesse sie erfolgt: revolutionär und zugleich bürgerlich beschränkt. Sie hat recht, wenn sie die Religion als falsches Bewußtsein erkennt, aber sie bleibt beschränkt, wenn sie übersieht, daß dieses falsche Bewußtsein in falschem gesellschaftlichen Sein wurzelt. Sie hat die Religionskritik vorwärts getrieben bis zur Erkenntnis der Religion als Illusion; aber sie hat diese Illusion abstrakt anthropologisch statt konkret gesellschaftlich verstanden und darum nicht erklärt, warum die Illusion zum gesellschaftlichen Bedürfnis werden konnte und mußte; sie hat der religiösen Weltanschauung die weltanschaulichen Implikationen bürgerlicher Naturwissenschaft entgegengestellt, aber die Bourgeoisie vermochte keine Gesellschaftswissenschaft zu entwickeln, die analog die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte begriff, und eben weil die Religion ein gesellschaft-.historisches Phänomen ist, konnte die bürgerliche Aufklärung sie nur attakieren und paralysieren, aber nicht erklären und aufheben.

Auf Grund der historisch widersprüchlichen Rolle der Bourgeoisie entwickelten sich in der bürgerlichen Aufklärung nicht nur plebejisch-revolutionär-demokratische Formen der Religionskritik, wie sie z. B. in Ludwig Feuerbach ihren krönenden Abschluß fanden, son­dern auch aristokratische Formen, die dem aufgeklärten Absolutismus entsprachen und dazu dienten, sich selbst von jeder religiösen Anforderung zu dispensieren, um die Religion desto besser als Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse manipulieren zu können. Der Atheismus ist nicht klassenindifferent.

Neben dem Atheismus bürgerlicher Demokraten gibt es auch den Atheismus aufgeklärter Monarchen, man denke an Friedrich II. Der Atheismus, den wir poetisch aus Heines Webern und aus der Internationale kennen, ist ein anderer Atheismus als jener aristokratische, freilich noch humanistische Atheismus z. B. in Goethes Prometheus, den bezeichnenderweise die Kirche oft gar nicht als Atheismus empfunden hat. Gefährlich, weil nicht mehr humanistisch, ist jener bürgerliche Atheismus, der den Verfall der bürgerlichen Philosophie in Irrationalismus und Subjektivismus begleitet, der zur Lebensphilosophie und zum Existentialismus gehört und mit dem die Entwicklung zum den Faschismus begleitenden Nihilismus Hand in Hand geht. Er findet sich bei Nietzsche und bei Heidegger. Er diente dem Nationalsozialismus - neben der pseudoreligiösen Variante einer Wiederbelebung germanischer Mythologie und der Variante einer chauvinistischen Nationalisierung des Christentums - zur Paralyse ethischer Hemmungen gegenüber faschistischer Barbarei. Dieser "Herrenmenschen-Atheis­mus" war ein aller humanistischen Komponenten beraubter aristokratischer Atheismus (und das genaue Gegenteil des in seinem Wesen humanistischen plebejischen Atheismus), wenngleich dieser Charakter dadurch vernebelt wurde, daß der Nationalsozialismus ihn weithin benutzte, um dem Lumpenproletariat ein Herrenmenschenbewußtsein zu vermitteln. Er war - wie es dem Wesen des Faschismus entsprach - kein sozialer, sondern ein asozialer Atheismus; und es ist Selbstbetrug, wenn zuweilen kirchliche Apologetik meint, die Erfahrungen mit diesem Nihilismus zur Diskreditierung eines humanistischen Atheismus benutzen zu können - Mit dem Atheismus der Lebensphilosophie durchaus ver­wandt, inhaltlich imperialistisch-antihuma­nistisch bestimmt und gefährlich ist auch jener biologistische Atheismus, der in der Verbindung der sogenannten "Verhaltens­forschung" mit imperialistischer Ideologie weit verbreitet ist. Indem hier gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten pseudowissenschaftlich biologisch mißdeutet werden - z. B. nicht die imperialstischen Widersprüche, sondern ein "allgemeinmenschlicher" (ei­gentlich allgemein tierischer) "Aggressions­trieb" als Ursache der Kriege angesehen wird -, wird im Interesse der herrschenden Klasse das gesellschaftliche Verantwortungsbewußtsein untergraben. - Der spätbürgerliche, gegenüber dem Nihilismus zumindest wehrlose, oft ihn fördernde, elitäre Atheismus wendet sich gegen den optimistischen, rationalen, materialistischen Atheismus gerne mit der demagogischen Unterstellung, dieser sei - weil nicht skeptizistisch - "Ersatzreligion"; nicht das Element des Phantastischen und Illusionären in der religiösen Widerspiegelung, sondern das Element des weltanschaulich Entschiedenen und des Antisubjektivistischen in ihr und das damit verbundene Element ethischer Verbindlichkeit im Sinne des Humanismus erscheint diesem skeptischen "Athe­ismus" als das für Religion Typische. Ihm stellt er seinen Agnostizismus als "nicht­ideologische Objektivität" und die Legitimation des Libertinismus als "Freiheit" ent­gegen. Bedauerlicherweise macht sich the­ologische Apologetik diesen demagogischen Relativismus oft zu eigen, zuweilen ohne dessen gesellschaftliche Funktion zu durchschauen.

Neben einem plebejischen gibt es einen aristokratischen Atheismus, gegen den sich mit einem gewissen Recht der Protest Robespierres richtete: "Es gibt Menschen, die unter dem Vorwand, den Aberglauben zu zerstören, eine Art Religion des Atheismus machen. Aber der Atheismus ist Sache der Aristokratie: die Idee eines höchsten Wesens, welches über der unterdrückten Unschuld wacht und das triumphierende Verbrechen bestraft, etwas fürs Volk. Wenn Gott nicht existierte, müßte man ihn erfinden."14

Schon in der Phase seines Übergangs zum revolutionären Kommunismus sprengt Marx die Grenzen bürgerlicher Religionskritik, indem er die Kritik der Religion in die Kritik ihrer Wurzeln und also in Gesellschaftskritik verwandelt, und dokumentiert eben damit seinen Übergang zum Materialismus. So heißt es in der Einleitung "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" 1843/44, die in dieser Frage noch die Herkunft von Feuerbach  und schon dessen Überwindung zeigt: "15 Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. ... Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußt sein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes ... Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ... ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Ver­wirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. - Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusion über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. - ... Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik."16 Und dabei ist Marx sich schon dessen bewußt, daß es hier um Aufgaben geht, "für deren Lösung es nur ein Mittel gibt: die Praxis ... Die Waffe der Kritik kann ... die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift."17

Zu ihrer vollen Klarheit aber gelangt die ma­terialistisch-dialektische Religionskritik, indem sie sich selbst unterscheidet und abgrenzt von jener höchsten, bereits partiell materialistischen, insoweit materialistisch aber noch mechanischen, und bereits partiell diadialektischen, insoweit dialektisch aber noch idealistischen Entwicklungsstufe bürgerlicher Religionskritik, die diese, bereits ihre Grenzen sprengend, mit Ludwig Feuerbach erreicht hatte.

Marx faßt zunächst in genialer Kürze das Wesen der feuerbachschen Kritik zusammen: "Feuerbach geht aus von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, die Verdoppelung der Welt in eine religiöse vorgestellte und eine wirkliche Welt..." und hält ihm dann entgegen: "Er übersieht aber, daß nach Vollbringung dieser Arbeit die Hauptsache noch zu tun bleibt. Die Tatsache nämlich, daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich, ein selbständiges Reich, in den Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrrissenheit und dem Sich-selbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden ... in der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen."18 Dem individuellen Denken wird hier die gesellschaftliche Tat an die Seite und gegenüber gestellt und damit die Beschränktheit bloßer Aufklärung durchbrochen. Alsdann wird kritisch der mechanische Materialismus auf die materielle Bedeutung des gesellschaftlichen Handelns verwiesen: "Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über die Gesellschaft erhaben ist." 19 Damit trifft Marx jene bürgerliche Beschränktheit der Aufklärung, in der eine aufgeklärte bürgerliche Intelligenz überheblich den unaufgeklärten Massen gegenübertritt und aus der die verschiedenen Formen eines bürgerlich-aristokratischen Atheismus resultieren.20 Bürgerlicher Individualismus und Intellektualismus werden zugleich getroffen und überwunden, wenn Marx zentral hervorhebt: "Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse."21 Feuerbach sieht daher nicht, daß das 'religiöse Gemüt' selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform angehört." 22 Nicht zufällig schließen die Feuerbachthesen mit jener berühmten 11. These: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern." 23

Die Religionskritik des wissenschaftlichen Sozialismus unterscheidet sich von der ihr vorangegangenen - und von der sie noch im Verfall begleitenden - bürgerlichen Religionskritik mit einem Wort dadurch, daß sie die Religion nicht mehr als ein offenes und theoretisches Problem vor sich, sondern als ein praktisch gesellschaftlich gelöstes Problem prinzipiell hinter sich hat. Darum ist der im wissenschaftlichen Sozialismus begründete Atheismus - so unverzichtbar er zur wissenschaftlichen Weltanschauung des Sozialismus gehört - ihm doch nicht Hauptsache, sondern Selbstverständlichkeit, der begleitende Schatten seiner materialistischen und also nichtreligiösen Weltanschauung: "Von der großen Mehrzahl der deutschen sozialdemokratischen Arbeiter", schreibt Engels 1874, "kann man sogar sagen, daß der Atheismus bei ihnen sich schon überlebt hat; dies rein negative Wort hat auf sie keine Anwendung mehr, indem sie nicht mehr in einem theoretischen, sondern nur noch in einem praktischen Gegensatz zum Gottesglauben stehn: sie sind mit Gott einfach fertig, sie leben und denken in der wirklichen Welt und sind daher Materialisten." 24 Das heißt weder, daß dem Marxismus die Atheismusfrage gleichgültig würde - ebenso entschieden, wie er sich von seiner Erkenntnis her gegen den Versuch einer administrativen Beseitigung der Religion in der Gesellschaft wendet, wendet er sich gegen religiöse Subversion in der eigenen Partei und also gegen alle Formen ideologischer Koexistenz! -, noch heißt es, daß der Marxismus im theoretischen Interesse der Religionskritik erlahme, vielmehr schreibt Engels fast gleichzeitig in einer Notiz: "Der deutsche Protestantismus die einzige moderne Form des Christentums, die der Kritik wert ... (er) allein hat eine Theologie und damit einen Gegenstand der Kritik - der historischen, philologischen und philosophischen ..,. Eine Religion wie das Christentum wird nicht mit Spott und Invektive allein vernichtet, sie will auch wissenschaftlich überwunden sein, d.h. geschichtlich erklärt, und das bringt die Naturwissenschaft allein nicht fertig." 25

*

Ein apologetischer theoretischer Gegenangriff der Theologie gegen diese Religionskritik wäre unchristlich und sinnlos.

Warum unchristlich, ist in Abschnitt III zu zeigen; sinnlos aber darum, weil diese Kritik historisch zutreffend und darum theoretisch unwiderlegbar ist. Insoweit sie auch die christ­liche Gemeinde und ihren Glauben betrifft - und das will und tut sie -, ist diese Kritik nicht theoretisch und individualistisch durch Apologeten zu widerlegen, sondern es ist praktisch und kollektiv - so wie die Kritik selbst ja ansetzt - durch die Existenz der Ge­meinde "im Beweis des Geistes und der Kraft" jene Wirklichkeit religiösen Christentums zu überwinden, die von dieser Kritik richtig erfaßt wird. Das heißt: diese Kritik wird nur wider Willen bestätigt, wenn die Gemeinde sich im Widerspruch zu ihr selbst behaupten will, indem sie nach religiösen Bedürfnissen der Gesellschaft sucht, um aus deren Befriedigung zu leben, und wenn die Gemeinde Religion klerikal als Instrument der Unterdrückung oder enthusiastisch als Instrument des Protestes handhabt und davon lebt. Nicht diese Kritik, wohl aber ihr Grund und Gegenstand würde allerdings aufgehoben, wenn und wo eine Gemeinde nicht aus der religiösen Befriedigung gesellschaftlicher Interessen leben, nicht nach sich selbst fragen, sondern ständig der Welt sterben und doch allein aus Gottes Wort für die Welt leben würde, so daß ihre Existenz gesellschaft­lich unerklärbar wäre und sie selbst als ein Wunder Gottes erschiene.

Darum sollte die Gemeinde Jesu Christi in der weltlichen Interpretation ihres Glaubens durch die Liebe und also in ihrer politischen Existenz bereit werden zu selbstloser Solidarität und Zusammenarbeit für Frieden und soziale Gerechtigkeit auf Erden - auch mit sol-
chen, die ihren Glauben für Religion halten und ihn darum absterben lassen wollen wie marxistische Atheisten. Dabei sollte sie bußfertig eingestehen, daß sie selbst im Unglauben religiöser Sehnsucht erlegen und hinter ihrer Aufgabe zurückgeblieben ist und bekennen, daß sie durch illegitime Klassenbindungen ihre Verkündigung korrumpiert und im Sinne religiöser Unterdrückung, religiöser Verklärung gesellschaftlichen Protestes und religiöser Vertröstungen funktioniert hat. Aber sie wird nicht zugestehen dürfen, daß ihr Christusglaube - mag er auch nicht anders artikulierbar sein als so, daß er dem Nichtglaubenden als Religion erscheint - mit Recht religiöse Weltanschauung sei oder ihrer bedürfe. So sehr die Gemeinde eingeste-
hen muß, daß sie selbst in ihrem Unglauben immer wieder in ihrer Geschichte von gesellschaftlich begründeten religiösen Bedürfnissen gelebt hat und noch zu leben versucht ist, so wenig kann sie zugestehen, daß sie im Glauben auf eine gesellschaftliche Basis religiöser Bedürfnisse mit ihrer Existenz angewiesen sei. So darf sie getrost der marxistischen Prognose vom Absterben auch des Christusglaubens samt der Religion durch ihr bloßes Dasein - "als die Sterbenden, und siehe, wir leben" (2. Kor. 6, 9) - insofern widersprechen, als sie die Religion absterben läßt, aber den Verheißungen ihres Herrn gegen den Augenschein glaubt, daß seine Worte nicht vergehen werden.

(Im nächsten Heft folgt Abschnitt III, Christusglaube und Religion.)



 

Der unsterbliche Frühsozialismus *

von Kurt Gossweiler


Mit den gängigsten Ursachenerklärungen der "Demokratischen Sozialisten" der PDS und den mit diesen weitgehend übereinstimmenden einiger "demokratischer Kommunisten" in der DKP, als da sind: "Stalinistische Struk­turen", "Übergestülptes russisches Modell", "Mangel an Demokratie", "Staatssozialis­mus", "Avantgardismus", "Fehlende Opposition" und "Fehlende Konkurrenz zwischen den Parteien" usw. usf. haben sich Hardliner wie Vellay, Huar, Gossweiler und andere andernorts schon ausgiebig beschäftigt, so dass ich dies hier nicht noch einmal tun muß.

Stattdessen möchte ich mich einer Erklärung zuwenden, die erstmals noch mitten im Untergangsgeschehen auftauchte und die ich da­mals als Erklärungs- und Trostversuch in einem empfand, aber dennoch nicht akzeptieren konnte. Diese Erklärung lautete: "Was wir hatten, war ein Frühsozialismus., Er musste untergehen, weil die objektiven Bedingungen - wie seinerzeit bei der frühbürgerlichen Revolution für den dauerhaften Sieg über den Feudalismus - für seinen dauerhaften Sieg noch nicht gegeben waren."

Diese Erklärung war nicht akzeptabel, denn wenn die objektiven Bedingungen für die sozialistische Revolution noch nicht reif gewesen wären und sie deshalb von vornherein zum Untergang bestimmt gewesen wäre, dann hätte die Sowjetunion sich nicht zur zweitgrößten Weltmacht entwickelt und 1918-1920 der Intervention der imperialistischen Staaten und 1941 dem Überfall der Angriffsarmeen des vom Weltimperialismus hochgezüchteten deutschen Faschismus stand­halten können, dann hätte es nicht zum Sieg der chinesischen Volksrevolution kommen und dann hätte sich das sozialistische Kuba nach dem Verlust seines Rückhaltes an der Sowjetunion und den europäischen Ländern der Volksdemokratien in der unmittelbaren Nachbarschaft der imperialistischen Supermacht USA keinen Tag, keine Woche, geschweige denn nun schon über 12 Jahre halten können.


Die Geschichte hat den eindeutigen Beweis erbracht: solange die Sowjetunion und die sozialistischen Staaten sich in ihrer Politik von den Erkenntnissen von Marx, Engels und Lenin leiten ließen und lassen, waren und sind sie unbesiegbar.

Nun aber tauchte die These vom zum Untergang verurteilten Frühsozialismus im Zuge der Diskussion um den Programmentwurf der DKP erneut auf und veranlasste Erich Kundel zu einer kritischen Betrachtung in derDKP-Zeitung "Roter Brandenburger" unter dem Titel: "Habe ich in der DDR im Frühsozialismus gelebt?" 1

Erich Kundel schreibt dort: Diese Frage wird mir förmlich aufgedrängt, wenn ich in der "UZ" in der Stellungnahme der Schwedter Genossen zum Programmentwurf folgende Sätze lese: 'Als Frühsozialismus bezeichnen Wissenschaftler den gescheiterten Versuch, die neue Gesellschaft aufzubauen. Dieser Frühsozialismus war schon ein korrigierender, jedoch noch kein bestimmender Faktor. Unter dem Druck des Imperialismus konnte die neue Produktionsweise nicht heranreifen, auf der unreifen Produktionsweise kein vollkommener Überbau und kein vollkommenes demokratisches System entstehen.'"

Erich Kundel führt gegen die These vom Frühsozialismus unter anderem an:

"Aber eigentlich geht es ja ... vor allem um die Schlussfolgerungen, die an diese zwielichtige Begriffsbestimmung des ... Sozialismus geknüpft werden. Ich halte die Behauptung, dass sich die DDR im Stadium eines Frühsozialismus befunden habe, für viel gefährlicher als manche anderen, grobschläch­tigen Einschätzungen des Sozialismus in der DDR. Wenn jemand sagt, die DDR wäre ein Unrechtsstaat oder gar eine Diktatur, so weiß man sofort, mit wem man es zu tun hat. Wenn Dir aber jemand erklärt, dass in Russland nach der Oktoberrevolution ebenso wie nach 1945 in den Ländern Osteuropas und in der DDR die notwendigen Voraussetzungen für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft gefehlt haben, ... und dass deshalb der Untergang dieses 'frühen Sozialismus' gar nicht zu vermeiden war - wenn Dir das jemand so erklärt, so hört sich das beinahe wie der Trost eines guten Freundes an, der Dir eine wohlwollende Erklärung für den Sieg der Konterrevolution geben möchte. Aber dann muss ich mich natürlich fragen, ... war es denn nicht zumindest leichtfertig von den Bolschewiki unter Lenins Führung, 1917 eine sozialistische Oktoberrevolution vom Zaun zu brechen und wäre es deshalb nicht vernünftiger gewesen, 1952 auf den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in der DDR zu verzichten? Wer trägt die Verantwortung für die Opfer, die in diesem Kampf gebracht wurden? Waren es nicht die Kommunisten, die das Volk dazu aufgerufen haben?

Und damit sind wir an dem Platz angelangt, an dem uns die Bourgeoisie haben möchte. Die Kommunisten sind schuld an Diktatur und Gewaltherrschaft ..."

Zur DDR führt Kundel aus: "Und dieser Staat, diese Gesellschaft, deren Gestaltung und Entwicklung viele aus unseren Reihen ihr ganzes Leben gewidmet haben - das soll als 'Frühsozialismus' in die Geschichte eingehen? Nein, das dürfen wir schon im Interesse der historischen Wahrheit und aus Verantwortung gegenüber künftigen Generationen nicht zulassen. In der DDR gab es keinen Frühsozialismus. In der DDR gab es nur einen Sozialismus, und das war ein real existierender Sozialismus mit Mängeln und Unzulänglichkeiten, aber vor allem mit vielen Vorzügen, an die sich heute noch so mancher erinnert, wenn er mit der Wirklichkeit des real existierenden Kapitalismus konfrontiert wird."

Mit dem Anliegen Erich Kundels stimme ich voll überein. Dennoch gebe ich einige Einwände gegen seinen Ansatz "In der DDR gab es keinen Frühsozialismus, sondern nur einen Sozialismus, den real existierenden Sozialismus" zu bedenken.

Das Wort "Frühsozialismus ist mehrdeutig. Bisher wurde und wird es noch immer in dem Sinne eines "zu frühen" Sozialismus verstanden und gebraucht, für den die Zeit noch nicht reif gewesen sei.

Solange unter Marxisten-Leninisten die Auffassung Gemeingut war, dass der Sozialismus als erste Phase des Kommunismus mit der vollen Durchsetzung sozialistischer Produktionsverhältnisse bereits seine Aufgabe erfüllt habe und danach sofort der Übergang zu dessen zweiter Phase, zum eigentlichen Kommunismus beginne - und von dieser Vor­stellung gingen z. B. noch die Antworten Stalins auf dem XVIII. Parteitag der KPdSU zu der Frage nach der kommunistischen Perspektive der Sowjetunion unter den Bedingungen des Fortbestehens der imperialistischen Umkreisung aus -, solange konnte der Begriff "Frühsozialismus" nur in dem Sinne des "zu frühen" Sozialismus verstanden werden.

Aber diese Vorstellung ist doch längst überholt. Stalin selbst hat sie korrigiert in seiner letzten größeren Arbeit aus dem Jahre 1952 über "Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR". Er schrieb dort - als hätte er schon die Kommunismus-Prahlereien eines Chruschtschow vorausgeahnt - über die Vorbedingungen des Übergangs zum Kommunismus:

"Um den wirklichen Übergang zum Kommunismus vorzubereiten, nicht aber den Übergang zu deklarieren, müssen mindestens drei Vorbedingungen erfüllt werden. Erstens ist es notwendig, ... das ununterbrochene Wachs­tum der gesamten gesellschaftlichen Produktion bei vorwiegender Steigerung der Produktion von Produktionsmitteln stetig zu gewährleisten ... Zweitens ist es notwendig, das kollektivwirtschaftliche Eigentum vermittels allmählicher ... Übergänge durch ein System des Produktenaustauschs zu ersetzen, damit die Zentralgewalt oder irgend ein anderes gesellschaftlich-ökonomisches Zentrum die Gesamterzeugung der gesellschaftlichen Produktion im Interesse der Gesellschaft zu erfassen vermag. Drittens ist es notwendig, ein kulturelles Wachstum der Gesellschaft zu erreichen, das allen Mitgliedern der Gesellschaft eine allseitige Entwicklung ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten gewährleistet, damit die Mitglieder der Gesellschaft die Möglichkeit erhalten, ausreichende Bildung zu erwerben, um aktiv an der gesellschaftlichen Entwicklung mitzuwirken, damit sie die Möglichkeit erhalten, ihren Beruf frei zu wählen und nicht infolge der bestehenden Arbeitsteilung Zeit ihres Lebens an irgendeinen Beruf gefesselt sind ...

Erst nach Erfüllung aller dieser Vorbedingungen in ihrer Gesamtheit wird man hoffen können, dass die Arbeit in den Augen der Mitglieder der Gesellschaft aus einer Bürde 'das erste Lebensbedürfnis' wird (Marx), dass die 'Arbeit ... aus einer Last eine Lust wird' (Engels), dass das gesellschaftliche Eigentum von allen Mitgliedern der Gesellschaft als unerschütterliche und unantastbare Grundlage der Existenz der Gesellschaft angesehen wird." 2

Diese Ausführungen Stalins zeigen deutlich, dass er sich gründlich von der alten Vorstellung gelöst hatte, nach der Herstellung sozialistischer Produktionsverhältnisse stünde schon der Übergang zum Kommunismus auf der Tagesordnung. Er sagte der Partei und dem Sowjetvolk in aller Deutlichkeit, dass bis zum Übergang zum Kommunismus noch eine lange Zeit vergehen würde.

Ganz in diesem Sinne trat nach Stalins Tod dessen engster Mitarbeiter, Wjatscheslaw Molotow, 1956, noch vor dem XX. Parteitag der KPdSU, gegen die von Chruschtschow verbreiteten Verheißungen von der "Nähe des Kommunismus" auf und erklärte, in der Sowjetunion seien erst die Grundlagen des Sozialismus gelegt.

Daraus wurde ihm auf dem XXI. Parteitag der KPdSU ein Strick gedreht. Er und Lazar Kaganowitsch wurden als "Parteifeinde" aus der Partei ausgeschlossen, auf Verlangen der wirklichen, aber die Partei beherrschenden Parteifeinde Chruschtschow, Mikojan, Bresh­new und anderer. In der Anklagerede Mikojans - der nach Chruschtschow übelsten Figur aus der revisionistischen Verschwörergruppe - gegen Molotow war diese Äußerung Molotows aus dem Jahre 1956 einer der Hauptanklagepunkte. Mikojan geiferte gegen Molotow:

"In der Tat hat Molotow vor dem XX. Parteitag der KPdSU in einem Referat auf einer Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR of­fen daran gezweifelt, dass die sozialistische Gesellschaft in der UdSSR aufgebaut ist. Er sagte: Neben der Sowjetunion, wo bereits die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft errichtet sind, gibt es auch solche volksdemokratischen Länder, die bisher nur die ersten, aber außerordentlich wichtigen Schritte in Richtung auf den  Sozialismus getan haben."

Mikojans Kommentar zu dieser realistischen Einschätzung des erreichten Entwicklungsstandes:

"Nach Molotow sah es also so aus, dass erstens der Sozialismus in der Sowjetunion noch nicht aufgebaut ist. ... Sie werden begreifen, dass man auf der Grundlage solcher Thesen an einen Plan zum Aufbau des Kommunismus nicht einmal denken kann. ... Klar ist, wenn nur die Grundlagen des Sozialismus errichtet sind, kann man auch nicht die Frage des Überganges zum umfassenden Aufbau des Kommunismus aufwerfen." 3

Die Verheißung einer nahen lichten Zukunft eines Lebens im Überfluss statt einer realistischen Darstellung der schwierigen Gegenwart und Zukunft aber brauchte diese Betrügerbande, um die enttäuschten Massen trotz der sich verschlechternden Lage bei der Stange zu halten. Und der Volkszorn musste von den für diese Lage Verantwortlichen auf diejenigen als "Parteifeinde" abgelenkt werden, die dem Volk die Wahrheit sagten.

Wenn man diese Episode kennt und also weiß, wie sehr die Führungsclique um Chruschtschow und seine Nachfolger die Entlarvung von deren "Kommunismus"-Ge­schwafel als betrügerische Schaumschlägerei fürchtete und verfolgte, dann vermag man erst richtig den Mut Walter Ulbrichts zu würdigen, dass er genau dies der Sache nach tat, und dann kann man sich auch nicht mehr darüber wundern, dass man in Moskau seinen Kopf forderte und seinen baldigen Sturz betrieb.

Die Rede ist von dem Referat Walter Ulbrichts auf der Internationalen wissenschaftlichen Session "100 Jahre 'Das Kapital'", die am 13./14 September 1967 in Berlin stattfand. Was Walter Ulbricht in dieser Rede darlegte, war in der Tat eine höchst notwendige Weiterentwicklung der marxistisch-leninistischen Theorie vom Aufbau des Sozialismus-Kommunismus, für die der Grund in den zitierten Äußerungen Stalins und Molotow gelegt war.

Hier die wichtigsten Feststellungen aus Ul­brichts Referat zu diesem Komplex: "Die wichtigste Schlussfolgerung ... besteht darin, dass der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung der Gesellschaft ist, sondern eine relativ selbständige sozialökonomische Formation in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab. ... Der VI. Parteitag unserer Partei stellte fest, daß die sozialistischen Produktionsverhältnisse in der DDR gesiegt haben. Wir betrachten diesen Sieg nicht als Abschlusss, (unausge­sprochen klingt hier mit: 'wie man das in der Sowjetunion tut'; K.G.), sondern als eine wichtige Etappe beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. ... Wenn wir den geschichtlichen Prozess von der Entstehung der Elemente des Sozialismus in der antifaschistisch-demokratischen Ordnung bis in die Gegenwart betrachten, so zeichnen sich zwei Phasen der Entwicklung ab. In der ersten Phase wurden die Grundlagen des Sozialismus geschaffen durch den schrittweisen Übergang der Produktionsmittel in die Hände des Volkes, durch die Organisierung der Planwirtschaft, durch die allmähliche Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, der Handwerkerproduktionsgenossenschaften und der Betriebe mit staatlicher Beteiligung, der sozialistischen Formen des Handels sowie durch wichtige Bildungsreformen. Diese Phase endete mit dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse, mit dem das System der ökonomischen Gesetze des Sozialimus voll wirksam wurde.

In der zweiten Phase geht es darum, das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus zu gestalten, dessen Kernstück das ökonomische System des Sozialismus ist und zu dem auch das sozialistische Bildungssystem gehört. ... Vielleicht wird die Frage gestellt, wie wir das Verhältnis von sozialistischer zu kommunistischer Gesellschaftsformation sehen.

Beide Gesellschaftsformationen beruhen auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln. Der Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus wird auch bei uns und in den anderen sozialistischen Ländern allmählich in dem Maße erfolgen, wie die Voraussetzungen und die Keime der höheren Gesellschaftsordnung, vor allem das Niveau der Produktivkräfte, reifen. Der Sozialismus ist in dieser Beziehung die vorbereitende Gesellschaftsformation für den Kommunismus. Er muss vor allem in einem erbitterten Klassenkampf gegn die ökonomische Gesellschaftsformation des Kapitalismus seine Überlegenheit beweisen. ...

Der Sozialismus kann in diesem vielfältigen und offensichtlich nicht kurzfristigen Kampf als höhere Gesellschaftsordnung nur dann siegen, wenn er alle Seiten, alle Elemente des neuen gesellschaftlichen Systems in ihrer harmonischen Einheit entwickelt und zu einer unwiderstehlichen Anziehungskraft für die Werktätigen aller Länder wird, sowohl in materieller als auch in geistiger Hinsicht. Auch deshalb kann unter den entstandenen historischen Bedingungen der Sozialismus keine kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung der Gesellschaft sein, vielmehr werden wir einen bestimmten historischen Zeitabschnitt für die Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR brauchen." 4

Lassen wir einmal beiseite, worüber möglicherweise zu streiten wäre: z. B. ob es nicht genügt hätte, bei der Marx'schen Unterscheidung von zwei Phasen der neuen Gesellschaftsformation: Sozialismus und Kommunismus, zu bleiben und lediglich klarzustellen, dass entgegen den bisherigen Vorstellungen die erste, die Sozialismus-Phase, nicht ein kurzer Übergang zum Kommunismus, sondern eine viele Jahrzehnte beanspruchende Entwicklungsstufe sein werde; und ferner: ob nicht bei einer Formulierung, der Sozialismus könne nur siegen, "wenn er alle Seiten des neuen gesellschaftlichen Systems in ihrer harmonischen Einheit entwickelt", zuviel von Harmonie die Rede ist und damit das Gesetz der Entwicklung aus der Einheit und dem Kampf von Widersprüchen außer acht gelassen wird.

Versuchen wir vielmehr zu beurteilen, was die Ausführungen Walter Ulbrichts für die Weiterentwicklung der marxistisch-leninisti­schen Theorie vom Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung Sozialismus/Kommunis­mus bedeutet haben, dann ist es meiner Ansicht nach nicht übertrieben festzustellen:

Mit diesen Ausführungen wurde die marxistisch-leninistische Theorie über den Aufbau der neuen Gesellschaftsformation des Sozialismus-Kommunismus einen gewaltigen und dringend notwendigen Schritt vorangeführt und auf eine neue Stufe gehoben. Das bahnbrechend Neue der Ausführungen Walter Ulbrichts besteht in der Erkenntnis, dass mit dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse der Sozialismus eigentlich nur eine allererste, gewissermaßen embryonale Entwicklungsstufe hinter sich gelassen hat, aber noch weit davon entfernt ist, schon ein fertig entwickelter Sozialismus zu sein, dessen weitere Entwicklung bereits die Phase zum Übergang zum Kommunismus einleitet. Bis dahin hat er vielmehr noch einen weiten Weg vor sich, muss er in einem langwierigen Wachstums- und Reifeprozess seinen Kinderschuhen entwachsen und zu einer Reife gelangen, in der er nicht nur hinsichtlich der Produktivkräfte-Entwicklung dem Kapitalismus eine ganze Epoche voraus ist. Damals ausgesprochen war diese These - die heute vor allem durch die programmatischen Feststellungen der Kommunistischen Partei Chinas darüber, dass die Phase des Aufbaus des Sozialismus in ihrem Lande möglicherweise 100 Jahre umfassen werde, für die kommunistische Bewegung fast schon zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist -, nicht nur neu, sondern der Sache nach auch eine demonstrative Abgrenzung von der volksbetrügerischen Kommunismus-Verheißung Chruscht­schows in der Sowjetunion.

Diese neue Erkenntnis wirft aber auch ein neues Licht auf den Begriff des Frühsozialismus. Wenn der Sozialismus eine längerdauernde, viele Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte umfassende Phase des Entstehens, der Entwicklung und des Reifens, also der ständigen Veränderung des Sozialismus, darstellt, dann ist auch klar, dass es nicht genügt, jede dieser verschiedenen Entwicklungsetappen immer nur mit dem gleichen Begriff "Sozialismus" bzw. "realer Sozialismus" zu benennen. Dann ist es nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, die jeweilige Entwicklungsstufe des Sozialismus von der vorangehenden und der nachfolgenden abzuheben und durch eine spezielle Bezeichnung ihre Besonderheit zu benennen.

Dann muss man mit Begriffen arbeiten, die deutlich machen, dass der Sozialismus mehrere Entwicklungsphasen durchläuft. So könnte man beispielsweise davon sprechen, wir hätten es anfangs mit einem embryonalen Sozialismus, den man auch Frühsozialismus nennen könnte, später mit einem sich entwickelnden und schließlich mit einem reifen, voll entwickelten Sozialismus zu tun. Der Begriff "Frühsozialismus" hat in diesem Zusammenhang nicht mehr die Bedeutung eines "zu frühen" Sozialismus, sondern die eines Sozialismus in seinem frühen Entwicklungsstadiums Und in einem solchen Sinne wird dieser Begriff sehr sinnvoll und ist als Charakterisierung des bis 1989 verwirklichten Sozialismus viel exakter als der ohnehin sehr fragwürdige Begriff des "realen Sozialismus".

Diejenigen, die die Bezeichnung "Realer Sozialismus" oder "Realsozialismus" heute so verwenden, als sei das von eh und je die Bezeichnung für den Sozialismus in der Sowjetunion und in der DDR und den anderen sozialistischen Ländern gewesen, wissen offenbar nicht, dass das Wort vom "realen" oder vom "real existierenden Sozialismus" eine verhältnismäßig späte Prägung ist. Sie wurde nach meiner Erinnerung in der DDR erstmals in den 70er Jahren gebraucht, von den anderen sozialistischen Ländern, wenn überhaupt, nur zögernd übernommen.

Woher kam das Bedürfnis, dem Begriff des Sozialismus ein seinem Wesen nach gewissermaßen entschuldigendes Adjektiv beizufügen?

Dieses Bedürfnis ergab sich daraus, dass in diesen Jahren die Nichtübereinstimmung von Ideal und Wirklichkeit immer deutlicher sichtbar und spürbar wurde und einer Erklärung bedurfte. Eine wirkliche Erklärung wur­de nicht gegeben und konnte wohl auch nicht gegeben werden, denn sie hätte auf die vom XX. Parteitag der KPdSU ausgehende revisionistische Weichenstellung und ihre Auswirkungen auf alle sozialistischen Länder hinweisen müssen. Stattdessen wurde - dies aber durchaus zu Recht und zutreffend - darauf hingewiesen, dass es zwar schon viele Verheißungen - z. B. von der Sozialdemokratie - gegeben habe, den Weg zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft zu gehen, dass aber nur in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern wirklich die Macht des Kapitals gebrochen und der Weg zum Aufbau einer neuen, auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln beruhenden sozialistischen Gesellschaft beschritten wurde.

Wenngleich nicht vollkommen, sei dieser Sozialismus doch der erste und bisher einzig real existierende Sozialismus. Die Wortschöp­fung vom Realssozialismus war also Ausdruck der Einsicht und des Eingeständnisses, nicht alle Erwartungen erfüllt zu haben, die man selbst gehegt und verbreitet hatte.

Der Bedarf nach diesem Begriff trat auf, als und weil sich der Sozialismus durch den und seit dem XX. Parteitag der KPdSU auf einer absteigenden Linie, in einer Abstiegsphase befand, in der sich zwischen Ideal und Wirklichkeit, besser gesagt: zwischen dem real Erreichten einerseits, dem Erwarteten und bei normaler Entwicklung auch erreichbar Gewesenen andererseits eine immer größere Kluft auftat:

Der jetzt so benannte "reale Sozialismus" war eben nicht der Sozialismus des "Weges von 1917", sondern der eines Abweichens von diesem Wege.

Aus diesem Grunde ist für mich die Bezeichnung "Real existierende Sozialismus" oder "Realsozialismus" als Bezeichnung für den Sozialismus insgesamt, d. h. für den Sozialismus in der Sowjetunion seit 1917, in der DDR und den anderen sozialistischen Ländern seit 1949/52 unzulässig. Diese Bezeichnung entstand nicht ohne Grund erst für den Sozialismus der Abstiegsphase. Er bezeichnet nur jenen von den Auswirkungen des revisionistischen Abweichens der Sowjetunion bereits entstellten und deformierten Sozialismus. Es ist irreführend und verschleiernd, den unverfälschten, vom Leninismus gepräg­ten Sozialismus mit dem gleichen Namen zu belegen wie den vom Revisionismus entstellten und mit dem Todeskeim infizierten Sozialismus.

Um die Besonderheiten des Sozialismus der Abstiegsphase adäquat zum Ausdruck zu bringen, wäre allerdings an die Stelle des Begriffes "Realsozialismus" ein Begriff wie etwa "denaturierter Sozialismus" zu setzen.  


 

 

Was jetzt tun? - Überlegungen nach dem Sonderparteitag der PDS

Von Wolfram Triller


1.     Mit dem Sonderparteitag hat die PDS konzeptionell und personell den endgültigen Bruch mit dem Sozialismus vollzogen. Sie ist zu einer Partei des „kleinbürgerliche Sozialismus“ und des praktischen Antikommunismus verkommen. Soweit sich Sozialisten und Kommunisten noch nicht von ihr getrennt haben, werden sie als „avantgardistisch verbal-radikalen“ etikettiert, als historisch zurückgeblieben charakterisiert und damit diffamiert[1 und ausgegrenzt. Gleichzeitig liefern sie gewollt oder ungewollt (wie in der SPD) das Feigenblatt für den „Pluralismus der Partei“, befördern sie die Irritation der Massen und erweisen sich in zunehmendem Maße als Opportunisten und Revisionisten. Ihr Einfluß auf die reale Politik der PDS tendiert gegen Null. Der Bourgeoisie ist die Integration der PDS ins bürgerliche parlamentarische System gelungen und sie wird sie entsprechend ihren Interessen und nach Zweckmäßigkeitsgesichtpunkten für die Stabilisierung des kapitalistischen Ausbeutersystems benutzen. Die Beschlüssen des PDS-Sonderparteitags werden vor allem charakterisiert: durch:

- Alternativvorschläge, bei denen der Neoliberalismus der Regierenden durch den Neokeynesianismus ersetzt und die extremen Auswüchse des kapitalistischen Profitsystems „sozial verträglich“ gemildert werden sollen;

- (Wunsch-)Forderungen, die in völligem Gegensatz zu den Gesetzen der kapitalistischen Marktwirtschaft stehen und vor allem durch moralische Appelle an die Unternehmer und die Verantwortung des Staates (des Machtinstruments der herrschenden Klasse) verwirklicht werden sollen;

- eine (scheinbar) scharfen Abrechnung mit den Flügen und Extrempositionen in der Partei, die Beschwörung des Pluralismus der Partei, die Notwendigkeit einer straffen Führung durch den Parteivorstand und eine Personalpolitik, die eine widerspruchslose Durchsetzung der Politik der „Modernisierung der PDS“ (zu einer „normalen“ Partei im bürgerlichen Parteienspektrum) ermöglicht;

- einen Schwall von Sprechblasen über sozialistische Ziele und sozialistische Politik, durch Versatzstücke sozialistischer Begrifflichkeit und durch einen Eklektizismus theoretische Positionen. Die „Modernisierer“ benutzen diese Herangehensweise, um den Vorstellungen der breiten Mitgliedschaft zu entsprechen und um ihre realen Absichten zu verhüllen (was sie als böswillige Unterstellungen energisch zurückweisen)[2].

- Vorschläge für außerparlamentarische Aktionen und Bündnisse, denen eine antikapitalistische Stoßrichtung fehlt und die geeignet sind, solchen Bewegungen die Spitze zu brechen (bewährtes SPD-Konzept).

 

Für Sozialisten und Kommunisten ist die PDS (nur noch) in soweit von Interesse, weil an ihr studiert werden kann und muß, wohin Revisionismus und Opportunismus führen und worin die Ursachen dafür bestehen, dass es der PDS-Mitgliedschaft nicht gelungen ist, den Verrat am Sozialismus aufzuhalten, warum sie immer noch in der Illusion lebt, die PDS wäre eine sozialistische, mindestens linke Partei. Nicht zuletzt müssen Wirkungsmöglichkeiten für Sozialisten und Kommunisten, die sich von der PDS trennen wollen, eröffnet werden (soweit sie sich diese nicht selbst schaffen).

2.    Ohne Rückkehr zum Marxismus-Leninismus und seine Weiterentwicklung, ohne eine wissenschaftliche Weltanschauung werden Sozialisten und Kommunisten keine Chance haben in ihrem Kampf zur Überwindung der kapitalistischen Barbarei erfolgreich zu sein. Das bedeutet unter anderem bei Lenin nachzulesen und sich in Erinnerung zu rufen, wie er die Frage „Was tun?“ beantwortet hat[3].

Dabei wird zu einer der wichtigsten Erkenntnissen und Konsequenzen gehören, wie er der Situation der Sozialisten (Kommunisten) charakterisieret hat: „Wir schreiten als eng geschlossenes Häuflein, uns fest an den Händen haltend, auf steilem und mühevollem Wege dahin. Wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und müssen fast stets unter ihrem Feuer marschieren. Wir haben uns, nach frei gefaßtem Beschluß, eben zu dem Zweck zusammengetan, um gegen die Feinde zu kämpfen und nicht in den benachbarten Sumpf zu geraten, dessen Bewohner uns von Anfang an dafür schalten, daß wir uns zu einer besonderen Gruppe vereinigt und den Weg des Kampfes und nicht den der Versöhnung gewählt haben. Und nun beginnen einige von uns zu rufen: Gehen wir in diesen Sumpf! Will man ihnen ins Gewissen reden, so erwidern sie: Was seid ihr doch für rückständige Leute! Und ihr schämt euch nicht, uns das freie Recht abzusprechen, euch auf einen besseren Weg zu rufen! – O ja, meine Herren, ihr habt die Freiheit, nicht nur zu rufen, sondern auch zu gehen, wohin ihr wollt, selbst in den Sumpf; wir sind sogar der Meinung, daß euer wahrer Platz gerade im Sumpf ist, und wir sind bereit, euch nach Kräften bei eurer Übersiedlung dorthin zu helfen. Aber laßt unsere Hände los, klammert euch nicht an uns und besudelt nicht das große Wort Freiheit, denn wir haben ja ebenfalls die `Freiheit´, zu gehen, wohin wir wollen, die Freiheit, nicht nur gegen den Sumpf zu kämpfen, sondern auch gegen diejenigen, die sich dem Sumpfe zuwenden!“[4]

Um sich zu vereinigen mit allen antikapitalistischen und systemoppositionellen Kräften muß man sich trennen, trennen von Illusionen und der Ideologie der Bourgeoisie, von falschen Freunden, von Zukunftspessimismus und Zynismus. Man muß den Kampf der Arbeiterklasse und seine Ergebnisse verteidigen. Die Haltung zur Oktoberrevolution, zum Aufbau des Sozialismus im Rahmen des RGW, insbesondere auch in der DDR, sowie in den Ländern mit sozialistischer Orientierung wie Kuba, China, die KVDR und Vietnam ist ein Prüfstein für einen Kommunisten. Einer theoretischen und praktischen Klärung bedarf der Begriff der „Linken“ und seiner Rolle in zukünftigen antikapitalistischen Bewegungen und Kämpfen.

3.     Erfolgreiche sozialistische Revolutionen brauchen eine „Partei neuen Typus“, die die notwendigen Lehren aus der Geschichte (auch für den Aufbau, die Organisation und die Arbeitsweise der Partei selbst) gezogen hat. Eine solche Partei kann sich nur auf wissenschaftliche, auf marxistisch-leninistischer Grundlage und aus den Erfahrungen des Klassenkampfes entwickeln. Eine solche Partei gibt es gegenwärtig in der Bundesrepublik nicht. In verschiednen Parteien (z.B. DKP, KPD), Organisationen und Publikationsorganen (z.B. Rotfuchs, offensiv) wird um die Formierung eine Partei neuen Typus und um ihr theoretisches Profil gerungen. Sie sind in unterschiedlicher Weise „Sammelbecken“ von Sozialisten und Kommunisten und wirken mit unterschiedlichen Schwerpunkten in die Gesellschaft hinein.

Die Bemühungen um die Zusammenführung der Sozialisten und Kommunisten in der Bundesrepublik sind gegenwärtig noch völlig unzureichend. Dabei spielen besonders folgende Gründe eine Rolle:

· Unterschiede in den Erfahrungen bei den Kämpfen in den jeweiligen gesellschaftlichen Systemen (in Ost und West)

· Differenzierter Stand bei der Aufarbeitung der Ursachen der historischen Niederlage und bei der Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse

· Einflüsse von revisionistischen und opportunistischen Positionen

· Traditionelle Bindungen an bisherige Organisationen und bestehender zwischenmenschlicher Beziehungen

· Subjektive Vorbehalte und gesammelte negative Erfahrungen mit anderen Organisationen und gegenüber einzelnen Personen.

· Altersmäßige Schwierigkeiten, sich aus einem langjährig entstandenen Umfeld zu lösen und noch einmal einen Neuanfang zu wagen

 

Die Zusammenführung der Sozialisten und Kommunisten wird deshalb (vorläufig) nicht durch den Zusammenschluß von Organisationen oder den Übertritt in andere Organisation zu erreichen sein (obwohl letzteres durch eine geeignete „Öffnungspolitik“ befördert werden sollte). Es müssen von allen Beteiligten und Interessierten die Bemühungen ausgehen und verstärkt werden, die vorstehend genannten Hinderungsgründe schrittweise abzubauen und mit „gemeinsamen Projekten“ (im Sinnen von „Aktionseinheit“) die Bedingungen für die organisatorische Einheit der Sozialisten und Kommunisten zu schaffen.

 

Dabei ist eine Doppelstrategie notwendig.

- Ein Teil der Doppelstrategie muß die Verständigung der Leitungsgremien von Parteien und Organisationen (einschließlich entsprechender Medien) über gemeinsame „antikapitalistische Projekte“ und über die dafür notwendigen Maßnahmen sein. Bei diesem Vorhaben darf es keine Ausgrenzung von Gruppen und Organisationen geben, die sich als antikapitalistisch verstehen. Im praktischen Kampf wird sich zeigen, wie weit jeder Partner bei dem jeweiligen Vorhaben mitgehen kann und in welchem Maße es ihm gelingt, seine spezifischen Intensionen der gemeinsamen Aufgabe unterzuordnen.

- Der zweite Teil der Doppelstrategie (wahrscheinlich der leichter zu realisierende) muß auf die Schaffung von örtlichen „Aktionsbündnissen von Sozialisten und Kommunisten“ gerichtet sein. Das ergibt sich aus den unterschiedlichen Bedingungen in den verschieden Territorien und den jeweiligen Partner, die zu antikapitalistischen Aktionen bereit sind bzw. sich auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können. Dabei werden sie auch unterschiedliche Organisationsformen wählen (Aktionsbündnisse, Bürgervereine, Koordinierungsräte, Demonstrationen, Blockaden, Foren, Veranstaltungsreihen, u.a.)

 

Der Erfolg der Doppelstrategie wird wesentlich davon abhängen, wie es den Sozialisten und Kommunisten gelingt, die gesellschaftliche Situation richtig einzuschätzen, sich auf die sich daraus ergebenden Schwerpunkte zu konzentrieren und vielfältige Formen des antikapitalistischen Kampfes zu nutzen und zu erproben.[5]

 

4.     Als ein Kernproblem für den Kampf der Sozialisten und Kommunisten erweist sich die Frage nach dem historischen Subjekt.

 

Die PDS hat sich für folgende Position entschieden: „Die PDS behauptet nicht, die allein selig machenden Antworten zu haben, sondern sie will im offenen Dialog mit den Menschen um zukunftsfähige, sozial gerechte, wirtschaftlich produktive und demokratische Lösungen streiten[6]. „Gebraucht wird eine Reformpolitik, die den Erwartungen der Menschen entspricht und nicht gegen sie gerichtet ist …“[7]. Die PDS will das über einen SozialKonventzur Debatte über die soziale und wirtschaftliche Reform der Gesellschaft“ erreichen[8]. „Denn `Schlaue Lösungen´ sind kein Privileg einer Partei, auch nicht der unseren[9]. Sie zu finden, bedarf es der breitesten gesellschaftlichen Diskussion, Meinungsbildung und Entschließung. Er (der Sozialkonvent) könnte nach dem Beispiel des Europäischen Verfassungskonvents zusammengesetzt sein aus Abgeordneten des Bundestages und der Landtage, Vertretern der Kommunen, insbesondere der kommunalen Spitzenverbände, Gewerkschaften, Kirchen, sozialen Verbände und Bewegungen, von Medien, Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen“[10]. Die PDS versteht sich in diesem Sinne als „Volkspartei“, einer Partei, die die Interessen aller Klassen und Schichten vertreten will. Sie will „reale Politik, die Millionen Menschen erreicht“[11].

 

Eine antikapitalistische, sozialistische Partei muß aber ihre Programmatik aus dem Grundwiderspruch des Kapitalismus ableiten, dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Es muß ihr gelingen, die sich weltweit zuspitzenden Konflikte und Kämpfe auf ihre wesentliche Ursache zurückzuführen, auf das Streben nach Maximalprofiten, auf das Grundprinzip des kapitalistischen System, das nur durch die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse überwunden werden kann. Dieser Kampf wird durch die beiden Hauptklassen im Kapitalismus bestimmt[12]. Daran ändert auch nichts das gegenwärtige für die Arbeiterklasse ungünstige Kräfteverhältnis gegenüber der Bourgeoisie. Dieses Kräfteverhältnis ist nicht zuletzt auch im Opportunismus der „sozialistischen“ Parteien begründet. Solche Feststellungen wie:

- die Arbeiterklasse gibt es nicht mehr,

- und wenn, dann ist sie nicht revolutionär,

- eine proletarische Revolution steht nicht aus der Tagesordnung

- den Menschheitsinteressen müssen die Klasseninteressen untergeordnet werden

erweisen sich in der Praxis als vorgeschobene Argumente, um sich als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu bewähren.

Notwendig ist jedoch die Aktualisierung der Marxschen Analyse über die Struktur der Arbeiterklasse, ihrer gegenwärtigen Kampfbedingungen, der Schwerpunkte der gegenwärtigen Klassenauseinandersetzungen sowie der notwendigen und möglichen Formen des Klassenkampfes unter der Bündnispolitik.

 

Eine sozialistische Partei muss eine Partei der Arbeiterklasse sein.

 

5.      Eine zentrale Frage des PDS-Sonderparteitages war das Verhältnis von Ideologie und Politik. Lothar Bisky formulierte das so: „Was jedoch, liebe Genossinnen und Genossen, die Öffentlichkeit und vor allem die Menschen nicht erreicht, das kann alles sein, überzeugendste Ideologie, rhetorische Meisterleistung, glänzende Analyse, menschlichste und sozialste Forderung - Politik ist es nicht“[13]. Und ein sächsischer Genosse brachte die Position seines Landesvorsitzenden vom „ideologiefreien Sozialismus“ auf den Punkt: „Von der Ideologie zurück zur Politik!“[14] Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch die „Ideologie der Moderne“ als die „Ideologie der PDS-Realpolitik“.

 

Eine „Entideologisierung der Politik“, die Reduzierung von Politik auf „sachbezogene Auseinandersetzungen“ ohne Verdeutlichung der mit der Sache verbundenen (Klassen-)Interessen kommt einer Kapitulation vor den Interessen des Kapitals gleich. Sozialisten und Kommunisten verteidigen deshalb ihre ideologischen Positionen, die aus ihrer wissenschaftlich begründeten Weltanschauung erwachsen und betrachten den ideologischen Kampf als ein Kernstück des Klassenkampfes.

 

[1]   Die „Modernisierer“ sind auch sonst in ihrer Wortwahl nicht zimperlich, wenn sie von „Egomanen“ und „Scharlatanen“ sprechen, um die Gegner ihres Kurses zu diffamieren.

[2] „Die Dialektik der Geschichte ist derart, dass der theoretische Sieg des Marxismus seine Feinde zwingend, sich als Marxisten zu verkleiden. Der innerlich verfaulte Liberalismus versucht, sich als sozialistischer Opportunismus neu zu beleben“ In: Die historischen Schicksale der Lehrer von Karl Marx, W.I. Lenin, Werke, Bd. 18, S 576-579

[3] Wladimir Iljitsch Lenin: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, In: W.I. Lenin, Werke, Bd.5, S.355-549.

[4] Die Hoffnung von Kerstin Köditz, Kreisvorsitzende der PDS im Muldentalkreis und MdL Sachsen werden wohl Illusion bleibe, dass es der PDS gelingen möge„sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen“. In: Offener Brief an die Mitglieder des PDS-Kreisverbandes vom 1. Juli 2003

[5] Dabei haben wir immer zu berücksichtigen: Es stellt „sich die Menschheit (und das sollte auch für Kommunisten gelten - der Autor) immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.“ (K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Vorwort), ME Werke, Bd. 13, Dietz Verlag, Berlin 1975, S.9)

[6] „Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes“, Beschluss der zweiten außerordentlichen Tagung des 8. Parteitages der PDS 28./29. Juni 2003 in Berlin

[7] Aus: Gabi Zimmer, Rede auf der zweiten außerordentlichen Tagung des 8. Parteitages der PDS 28./29. Juni 2003 in Berlin

[8] „Der Parteitag der Partei des Demokratischen Sozialismus schließt sich in diesem Sinne dem Appell von PDS-Politikerinnen und -Politikern an, einen SozialKonvent zur Reform des Wirtschafts- und Sozialsystems. Wir wollen die breiteste gesellschaftliche Diskussion, Meinungsbildung und Entschließung. Diese Diskussion muss gerade in den Städten und Gemeinden entwickelt werden.“ In: „Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes“, Beschluss der zweiten außerordentlichen Tagung des 8. Parteitages der PDS 28./29. Juni 2003 in Berlin

[9] Es geht nicht um „schlauer Lösungen“ (was immer das sein soll), sondern um Lösungen, die die Wirklichkeit richtig widerspiegeln, die wissenschaftlich begründet sind und nicht nur subjektiven Mehrheitsmeinung entsprechen (etwa die von der Senkung der Lohnnebenkosten und der Steuern). Mit einem Worte, es geht um Lösungen, die den wissenschaftlichen Wahrheitskriterien standhalten und die die „subjektive Befindlichkeit“ der Akteuren. berücksichtigen.

[10] http://www.pds-online.de/politik/presseerklaerungen/ Presseerklärung vom 29.05.2003

Die in der Presseerklärung zum SozialKonvent vertretene Position erinnert an die Erkärung: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. Ihr Ergebnis waren 20 Millionen Tote, aber auch eine Revolution.

[11] In: Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes, Beschluss der zweiten außerordentlichen Tagung des 8. Parteitages der PDS 28./29. Juni 2003 in Berlin

[12] „Das Wichtigste in der Marxschen Lehrer ist die Klarstellung der weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats als des Schöpfers der sozialistischen Gesellschaft“ … „Wer nach den Erfahrungen sowohl Europas als auch Asiens von einer nicht klassengebunden Politik und einem nicht klassengebunden Sozialismus spricht, der verdient, einfach in einem Käfig gesperrt und neben irgend einem australischen Känguru zur Schau gestellt zu werden“ In: Die historischen Schicksale der Lehrer von Karl Marx, W.I. Lenin, Werke, Bd. 18, S 576-579

[13] In: Rede Lothar Bisky auf der der zweiten außerordentlichen Tagung des 8. Parteitages der PDS 28./29. Juni 2003 in Berlin

[14] Bernd Rump: „Von der Ideologie zurück zur Politik!“, In: Neues Deutschland vom 06.06.2003


 

Drei Illusionen

Über Erfahrungen mit Marxismus & Pluralismus in der PDS  und Spalter-Vorwürfen gegenüber Kommunisten

von Robert Steigerwald *


In Diskussionen mit PDS-Genossen stoße ich immer wieder auf drei Illusionen. Die eine lautet: Man muß die PDFS marxistisch, die zweite, sie wieder pluralistisch machen und die dritte: Wir wollen nicht als Spalter dastehen.

Kenntnis der Geschichte möge uns bei der Orientierung helfen

In der revolutionären Nachkriegskrise von 1919 verblieb ein Teil der bedeutendsten revolutionären Führungskräfte in der USPD, schloss sich nicht der SPD an. Ich bin sicher, dass Clara Zetkin sich mit ihrer besten Freun­din, Rosa Luxemburg, beraten hatte, wie sie sich verhalten werde, und sie und mit ihr all jene, die in der USPD für konsequente revolutionäre Parteinahme wirkten und dann mit einem großen Teil der USPD-Mitglieder zur KPD übergingen, hatten recht getan. Sollte es unter den PDS-Genossen solche geben, die darauf hoffen oder hofften, es könne sich nach der schweren Niederlage von 1989/90 ein ähnlicher Prozeß vollziehen, sich der Weizen von der Spreu trennen, eine neue, starke marxistische Kraft entstehen, so haben diese Genossen die wesentlichen Unterschiede nicht bedacht: Damals revolutionäre Nach­kriegskrise, heute schwerste Niederlage in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Damals revolutionäre Arbeitermassen auf der Straße und teils sogar im bewaffneten Kampf gegen die Konterrevolution, heute nichts dergleichen. Damals im "Rücken" das revolutionäre Russland, heute das Jelzin/Putin-Russland usw. usf.

Es gibt aber noch ein weiteres "geschicht­liches" Beispiel. Wir hatten, im wilden Westen des Landes lebend, in den sechziger/siebziger Jahren den Fall, dass fast alle damaligen Juso-Vorsitzenden (gleichgültig, welchen Geschlechts) uns einredeten, sie wollten die SPD wieder auf marxistisches Geleis führen. Wir bezweifelten ihren guten Willen nicht, sagten ihnen aber etwa dies:

Denkt an die Zeit vor 1914. Da hatte die SPD das Erfurter Programm, das mit Engels' Hilfe zustande gekommen und das bis dahin beste sozialdemokratisch-marxistische Parteiprogramm überhaupt war. Es gab eine aufstrebende Arbeiterbewegung, in welcher so hervorragende Führungspersönlichkeiten wirkten wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Franz Mehring und Clara Zetkin, Wilhelm Pieck und Hermann Duncker usw. usf. Sie hatten die "Leipziger Volkszeitung", weit verbreitetes Arbeiterorgan, in den Händen und die Parteischule. Dazu gab es internationalen Rückenwind in Gestalt der Sozialisten-Kongresse mit ihren Beschlüssen gegen Imperialismus, Militarismus und Krieg.
Dennoch wurde der Verfaulungsprozesse der Sozialdemokratie nicht aufgehalten. Und glaubt ihr, Genossen von den Jungsozialisten, mit euren - genau genommen - vielleicht drei- bis viertausend Genossinnen und Genossen, die hinter euch stehen, ohne solche Führungskräfte, ohne solche Organe wie die genannten, die SPD wieder auf marxistische Geleise führen zu können?

Inzwischen kann man sehen, wer wen wohin geführt hat, einen sogar als Genossen der Bosse an die Staatsspitze.

Für so etwas gibt es Mechanismen. Einen wenigsten sollte man nennen: Die goldene Kette. Davon hat das Kapital eine große Aus­wahl auf Lager: Krankenkassen- oder Sparkassendirektoren, Leiter von Wohnungsbaugesellschaften oder Arbeitsämtern, allesamt gut dotierte Posten. Von den parlamentarischen und ministeriellen goldenen Ketten mal ganz abgesehen. Damals, in den Sechziger/Siebzigerjahren war jedes vierte der achthunderttausend SPD-Mitglieder an die goldene Kette gelegt. Da weinte sich mancher bei mir aus, hörte sich im PKW Kassetten mit revolutionären Liedern an, bevor er am Arbeitsplatz die erwarteten kleinbürgerlichen und bürgerlichen Bettelsuppen kochte. Hätten sie - soweit sie noch marxistisch gesonnen waren - aus ihren Herzen keine Mördergruben gemacht, sie wären die goldenen Ketten losgeworden, aber das war ein Opfer zu viel.

Kurz und gut: Es gibt keine Bedingungen, die PDS marxistisch zu machen.

Wie steht es um die Illusion Nr. 2?

Aus dem Zusammenbruch der SED ging die PDS hervor (was übrigens zu Schlussfolgerungen über die ideologische Arbeit in der SED führen sollte - das war eben keineswegs jene "monolithische", geschlossene, ideologisch-einheitliche Partei, wie das uns heute manche weis machen wollen!). Erst mal sam­meln, was zu sammeln ist, und sehen, was dabei herauskommt. Heraus kam ein buntes
Gemisch mit der Spannweite von Marx bis Bernstein und noch darüber hinaus. Das war in der Tat ideologisch-politischer Pluralismus, der aber nur so lange hielt, bis sich die Truppen um ihre jeweiligen Fahnen versammelt hatten. Danach, und das ist nun schon einige Jahre so, begann der Kampf um die Hegemonie. Nicht einmal mehr das Programm-Gemisch von 1993 soll noch bestehen bleiben. Zwei Prinzipien liegen miteinander im Streit und, wie gesagt, da geht es nicht mehr um Pluralismus, sondern um Hegemonie: Das Prinzip der marxistisch-sozi­alistischen Orientierung und das des kleinbürgerlich-bürgerlichen "Sozialismus", des Reformismus. Schlaumeier Lothar B. hat es ja deutlich gesagt: Die Flügel sollen aus der Führung ausscheiden. Natürlich wusste er, was er da in Wahrheit sagte: Die Marxisten raus und die Klappe halten. Denn die Reformisten, die sich von den Marxisten qualitativ unterscheiden, sind sich untereinander - sieht man von immer vorhandenen Eitelkeiten ab - im Prinzip einig. Ein paar salbungsvolle Worte über Werte mehr oder weniger, ein paar folgenlose kritische Worte an die Berliner Regierung mehr oder weniger, das ist alles an Unterschieden. Wobei man weiß, dass die in Berlin registrieren: In Landesregierungen macht die PDS alle aus Berlin vorgegebenen Schweinereien mit.

Es werden hier zwei Dinge vermischt, das Prinzip des Bündnisses mit dem der Partei. Ich bin sicher, es wird keinen Weg zum Sozialismus geben ohne ein breites Bündnis von Kräften, die auf unterschiedliche Weise für den Sozialismus eintreten und dabei auch nicht immer haargenau dasselbe meinen. Dies wäre die Konstellation für ein Bündnis, und wem es darum geht, es aufrecht zu erhalten, der muss bestrebt sein, hier Prinzipien des ideologisch-politischen Pluralismus anzuerkennen und Gefahr für das Bündnis darin zu sehen, um Hegemonie zu kämpfen. Die mag sich im Verlauf des gemeinsamen Wirkens, auf der Grundlage positiver Erfah
rungen herausstellen, aber sie ohne solche gemeinsam errungenen Erfahrungen erkämpfen zu wollen würde das Ende des notwendigen Bündnisses bedeuten.

Anders steht es um das Problem der Partei. Alle Parteien sind letztlich gruppiert um ein ideologisch-politisches Fundament (in dem sich, letztlich, Klassenpositionen und Klasseninteressen ausdrücken). "Flügelchen" ändern daran nichts. Keine dieser Parteien lässt ideologischen oder politischen Pluralismus zu. Pluralismus ist etwas anderes, als wenn es in der Partei auf der Grundlage der gemeinsamen ideologisch-politischen Basis in der Erarbeitung und Durchführung von Politik zu Meinungsstreit kommt. Eine Partei, sofern sie lebt und nicht alles unter dem Deckmantel der "Einmütigkeit" versteckt, wird immer solchen Meinungsstreit haben, andernfalls treibt sie alles Dialektische, alles aus dem Meinungsstreit hervorgehende Vorwärtstreibende aus sich heraus - und das Ende ist dann eine PDS, in der alles das, was man vorher hinter Einmütigkeit verborgen hatte, plötzlich fröhliche Urständ feiert.

Ich sehe keine Möglichkeit, bei Beibehaltung des Parteiprinzips die PDS pluralistisch zu machen.

Und die dritte Illusion?

Wie ist das mit dem Vorwurf des Spaltertums? Ihr könnt machen, was ihr wollt, den Vorwurf könnt ihr nicht vermeiden. Die Interpretationsmacht liegt in den Händen der Reichen und Mächtigen des Staates, und die stehen gegen euch, an der Seite der "Refor­mer". Was die vorhaben, wird von ihnen selbst und den willfährigen Medien als fortschrittlich, modern gefeiert und ist doch nur jener alte Plunder, den Marx und Engels im "Kommunistischen Manifest" oder Engels in dem berühmten "Zirkularbrief" als Antwort auf das "Zürcher Dreigestirn" der Höchberg, Schramm und Bernstein beschrieben haben. Die drei waren damals wenigstens ehrliche Opportunisten und Reformisten, boten sichoffen und ehrlich der Bourgeoisie als Kraft an, die willens und fähig sei, die Arbeiterklasse still zu stellen. Die heutigen Höchbergs usw. verstecken ihre Liebedienerei vor den Kräften des Kapitals, indem sie euch den Vorwurf der Spaltung machen, die ihr doch gar nicht spaltet! Ruft man nicht landauf landab, ihr wärt es, die die Reformer daran hindern, "positive Politik" zu machen? War es denn jemals anders in der Geschichte der Arbeiterbewegung, haben nicht stets die wirklichen Spalter mit der Methode "Haltet den Dieb" gearbeitet? Wer hat 1914 gespalten? Wer hat 1918/19 die Bluthunde losgelassen und eine Blutlinie zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten gezogen? Wer hat 1933 den Vorschlag abgelehnt, man möge gemeinsam gegen Hitler zum Streik aufrufen - Hitler äußerte in der ersten Sitzung seiner Regierung die Sorge, die SPD könne auf den kommunistischen Vorschlag eingehen, Göring beruhigte ihn, er habe mit der SPD-Führung gesprochen, die werde ablehnen, wenn man ihnen nur baldige Neuwahlen zusage. Dies geschah, und gewählt wurde nach dem Reichstagsbrand.

Die sozialdemokratische Haus- und Hofgeschichtsschreibung ist bis zur Kitschigkeit verlogen. Den Kommunisten warf sie stets Spaltertum vor, während sie selbst den gemeinsamen Kampf gegen die Nazis ablehnte. Mehr noch: Den Nazis gegenüber hat sie im Reichstag nur jenen Ermächtigungen Hitlers widersprochen, die für sie selbst gefährlich werden konnten - aber dem Nazi-Ansinnen entsprechend die jüdischen Mitglieder aus dem Parteivorstand entfernt! Sie hat dem außenpolitischen Programm der Nazis zugestimmt und anschließend, stehend, gemeinsam mit den Nazis im Reichstag das Deutsch­land-Lied gesungen. Ihre Gewerkschaftsbosse haben zusammen mit den Nazis den 1. Mai 1933 gefeiert - wofür sie am folgenden Tag den Tritt in den Hintern bekamen: Die Gewerkschaft wurde verboten. Und wer hat nach 1945 die Einigung der Arbeiterbewegung verhindert? Die Geschichte zeigt, wer die wirklichen Spalter waren und sind - und dennoch klebt man stets uns das Etikett "Spalter" auf. Das ist so, das bleibt so, da könnt ihr, da können wir machen, was wir wollen. Es darf dies uns also nicht zur Fessel werden, die uns im eigenen Handeln behindert.


 

 

"Marx schreibt, daß alle Geschichte sich zweimal abspielt. Einmal als Tragödie, einmal als Farce. Die jüngere und jüngste Geschichte der Sozialdemokratie hat sich in der opportunistischen Auslieferung der Weimarer Republik ans Nazi-Regime als Tragödie abgespielt und wiederholt sich als Farce in der Selbstzerstörung der PDS durch opportunistische Putschistencliquen."

Karl Mundstock, Berlin                                     Leserbrief  im "Rotfuchs", Sept.2003, S. 30 


 

 

Rede zum 50. Jahrestag des Angriffs auf die Moncada-Kasernen

am 26. Juli 2003

von Fidel Castro


Es scheint wie irreal zu sein, daß wir uns 50 Jahren nach jenen Ereignissen, deren wir heute gedenken, die am 26. Juli 1953 geschahen, hier an demselben Ort befinden. Ich war damals 26 Jahre alt. Bis zum heutigen Tag sind in meinem Leben 50 weitere Kampf­jahre vergangen.

In jenem weit zurückliegenden Augenblick konnte ich mir nicht einen einzigen Moment vorstellen, daß wir wenige noch von jener Aktion überlebenden Teilnehmer heute Abend hierher berufen werden würden, und zwar gemeinsam mit denen, die hier versam­melt sind oder im ganzen Land zuhören und die von der Revolution beeinflußt wurden oder aktiv in ihr handelten; gemeinsam mit denen, die zum damaligen Zeitpunkt Kinder oder Jugendlich waren; mit denen, die noch nicht geboren waren und heute Eltern und sogar Großeltern sind; gemeinsam mit ganzen Kontingenten von echten Männern und Frauen, voll revolutionärem und internationalistischem Ruhm und Geschichte, mit im Dienst stehenden oder sich in der Reserve befindenden Soldaten und Offizieren, mit Zi­vilen, die echte Heldentaten vollbrachten, mit einer unendlich scheinenden Anzahl von jun­gen Kämpfern, mit arbeitsamen Werktätigen oder begeisterten Studenten, oder beides zur gleichen Zeit, und mit Millionen von Pionieren, die unsere Vorstellungskraft von ewigen Träumen bis zum Rand anfüllen.

Und erneut erlegt mir das Leben das spezielle Privileg auf, das Wort an euch zu richten.

Ich spreche hier nicht in meinem persönlichen Namen. Ich tue es im Namen der heroischen Anstrengungen unseres Volkes und der Tausenden von Kämpfern, die während des halben Jahrhunderts ihr Leben gaben. Ich tue es außerdem mit Stolz auf das grandiose Werk, das sie zu verwirklichen in der Lage waren, auf die Hindernisse, die sie besiegten, und das Unmögliche, das sie möglich machten.

In den schrecklich traurigen Tagen nach der Aktion erklärte ich vor dem Gericht, das mich verurteilte, welches die Gründe waren, die uns zu jenem Kampf geführt hatten.

Kuba hatte eine Bevölkerung von weniger als sechs Millionen Einwohnern. Gemäß den damals bekannten Daten drückte ich unverblümt und in ungefähren Angaben die Situation unseres Volkes aus, und zwar die Situation 55 Jahre nach der US-amerikanischen Intervention gegen ein militärisch schon durch die Beständigkeit und das Heldentum der kubanischen Patrioten besiegtes Spanien, wodurch die Ziele unseres langen Unabhängigkeitskrieges vereitelt wurden und 1902 eine vollkommene politische und wirtschaftliche Herrschaft über Kuba etabliert wurde.

Daß uns in unserer ersten Verfassung gewaltsam das Recht der USA auferlegt wurde, in Kuba zu intervenieren und das Nationalterritorium für Militärstützpunkte zu besetzen, zusammen mit der Totalherrschaft über unsere Wirtschaft und ihre Naturschätze, reduzierte unsere nationale Souveränität praktisch auf Null.

Ich werde nur ein paar Sätze meiner Verteidigungsrede während der Gerichtsverhandlung, die am 16. Oktober 1953 stattfand, zitieren:

"600 000 Kubaner sind arbeitslos."

"500 000 Landarbeiter arbeiten vier Monate im Jahr und hungern in den anderen Monaten."

"Von 400 000 Industriearbeitern und Tagelöhnern sind die Pensionen unterschlagen worden, ihre Wohnungen sind die höllischen Zimmer der Zitadellen, ihre Löhne gehen aus den Händen des Arbeitgebers in die des Wucherers über; ihr Leben ist die ewige Arbeit und ihr Ausruhen ist das Grab."

"10 000 junge Fachkräfte, Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte, Veterinäre, Pädagogen, Zahn­ärzte, Pharmazeuten, Journalisten, Maler, Bildhauer usw. usf. beenden ihre Studien und möchten kämpfen und sind voll Zuversicht, um sich dann in einer Sackgasse ohne Ausweg zu befinden und vor verschlossenen Türen zu stehen."

"85 % der kleinen Landwirte bezahlen Pacht und leben unter der ständigen Bedrohung der Vertreibung von ihren Parzellen."

"200 000 Bauernfamilien besitzen nicht eine Handbreit Land, um Lebensmittel für ihre hungrigen Kinder anbauen zu können."

"Mehr als die Hälfte der besten landwirtschaftlich bewirtschaftetern Ländereien befinden sich in ausländischem Besitz."

"Ungefähr 300 000 Caballerias (mehr als drei Millionen Hektar) liegen brach."

2 200 000 Menschen unserer Stadtbevölkerung bezahlen Mieten, die zwischen einem Fünftel und einem Drittel ihrer Einkünfte verschlingen."

„2 800 000 Menschen unserer Land- und Vorstadtbevölkerung haben keinen elektrischen Strom."

"Zu den Landschulen gehen barfuß, halbnackt und unterernährt weniger als die Hälfte der Kinder im schulpflichtigen Alter."

„90% der Kinder auf dem Lande sind von Parasiten übersät."

"Die Gesellschaft ist gefühllos gegenüber dem Massenmord, der an so vielen Tausenden und Abertausenden Kindern begangen wird, die jedes Jahr wegen fehlender Mittel sterben."

„Wenn ein Familienvater vier Monate im Jahr arbeitet, wovon kann er denn dann seinen Kindern Anziehsachen und Arzneien kaufen? Sie werden mickrig heranwachsen, mit dreißig Jahren werden sie nicht einen einzigen heilen Zahn im Mund haben. Sie werden zehn Millionen Reden gehört haben und am Ende im Elend und in der Enttäuschung sterben. Der Zugang zu den staatlichen Krankenhäusern, die immer voll sind, ist nur mit der Empfehlung eines politischen Magnaten möglich, der dem Unglücklichen seine Wahlstimme und die seiner gesamten Familie abfordern wird, damit Kuba immer genau so bleibt oder noch schlechter wird."

Das Folgende war vielleicht das Wichtigste, was ich zum wirtschaftlichen und sozialen Thema sagte:

"Die Zukunft der Nation und die Lösung ihrer Probleme können nicht weiter von dem egoistischen Interesse eines Dutzend von Finanzmännern abhängen, von den eiskalten Berechnungen über Gewinne, die zehn oder zwölf Magnaten in ihren Büros mit Klimaanlage anstellen. Das Land kann nicht weiter auf den Knien liegen und um die Wunder einiger weniger Goldener Kälber bitten, die wie jenes des Alten Testaments, welches der Zorn des Propheten umwarf, keinerlei Wunder vollbringen. [...] Und durch Staatsmänner, deren staatsmännisches Tun darin besteht, alles so zu belassen, wie es ist, und das Leben damit zu verbringen, Dummheiten bezüglich der 'absoluten Unternehmensfreiheit', der 'Garantien für das Investmentkapital' und des 'Gesetzes von Angebot und Nachfrage' zu nuscheln, werden solche Probleme sicher nicht gelöst werden."

"In der heutigen Welt löst sich kein soziales Problem auf spontane Art und Weise."

Diese Sätze und Ideen beschrieben eine vorhandene Denkweise über das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das einfach beseitigt werden müßte. Im wesentlichen drücken sie die Idee eines neuen politischen und gesellschaftlichen Systems für Kuba aus, obwohl es gefährlich war, so etwas inmitten des Ozeans von Vorurteilen und des gesamten, von den herrschenden, dem Imperium alliierten Schichten gesäten ideologischen Gifts, verlauten zu lassen, das diese über eine Bevölkerung ergossen, von der 90% Analphabeten oder Halbalphabeten war, die nicht den Sechste-Klasse-Abschluß erreicht hatten.. Eine Bevölkerung, die unzufrieden, kämpferisch und rebellisch, aber nicht in der Lage war, so ein spitzfindiges und tiefgreifendes Problem zu verstehen. Seit damals besaß ich die solideste und gefestigtste Überzeugung, daß im Laufe der Geschichte die Ignoranz die mächtigste und schrecklichste Waffe der Ausbeuter gewesen ist.

Das Volk anhand der Wahrheit zu erziehen, mit unschlagbaren Worten und Tatsachen, das war vielleicht der grundlegende Faktor der grandiosen Heldentat, das es vollbracht hat.

Jene erniedrigenden Realitäten wurden abgeschafft trotz der Blockaden, der Bedrohungen, der Aggressionen, des massenhaften Terrorismus und des Kampfes der mächtigsten Massenmedien, die jemals existiert haben, gegen unsere Revolution.

Die Zahlen erlauben keine Widerrede.

Man hat <inzwischen> genauer erfahren kön­nen, daß die wirkliche Bevölkerung Kubas 1953, gemäß der in jenem Jahr durchgeführten Volkszählung, 5 8230 000 Einwohner be­trug. Die jetzige beläuft sich, gemäß der im September 2002 erfolgten Volkszählung, die sich schon in der Endphase der Datenbearbeitung befindet, 11 177 743 Einwohner.

Die Indices und Kennziffern zeigen, daß es 1953 eine Anzahl von 807 700 Analphabeten gab, was 22,3% entspricht. Eine Zahl, die sich in den sieben Jahren Batista-Diktatur sicher erhöhte. Im Jahr 2002 gab es nur 38 183, was 0,5% entspricht. Das Bildungsministerium schätzt, daß diese Zahl noch geringer ist, denn es fällt ihnen sehr schwer, trotz der minuziösen Suche nach nicht alphabetisierten Personen diese in ihren Branchen oder in den Wohnvierteln zu finden, obwohl sie die Woh­nungen besucht haben. Ihre Berechnungen, die gemäß den individuellen Nachforschungen berichtigt werden und noch genauer als eine Volkszählung sind, ergeben 18 000, was  0,2% entspricht. Beide Angaben schließen selbstverständlich jene Personen aus, die aus geistigen oder körperlichen Gründen nicht alphabetisiert werden können.

Im Jahr 1953 belief sich die Zahl der Personen mit mittlerer höherer Reife und bestandenem Abitur auf 139 984, das sind 3,2% der Bevölkerung über zehn Jahre. 2002 belief sie sich auf 5 733 243, das heißt 41 mal mehr und 58,9% der Bevölkerung desselben Alters entsprechend.

Die Anzahl der Graduierten mit Universitätsabschluß erhöhte sich von 53 490 im Jahr 1953 auf 712 672  im Jahr 2002.

Obgleich die Volkszählung 1953 zur Zeit der Zuckerrohrernte stattfand, einer Zeit mit der größten Nachfrage nach Arbeitskräften, ergab sich eine Arbeitslosigkeit von 8,4% der wirtschaftlich tätigen Bevölkerung. Die Volks­zählung von 2002, die im September durchgeführt wurde, zeigte, daß die Arbeitslosigkeit in Kuba heute nur 3,1% beträgt, obwohl die wirtschaftlich tätige Bevölkerung, die 1953 nur 2 059 659 betrug, im vergangenen Jahr 4 427 028 erreichte. Das Überzeugendste ist, daß im folgenden Jahr, wo sich die Arbeitslosigkeit auf weniger als 3 % vermindert, Kuba in die Kategorie eines Landes mit Vollbeschäftigung übergeht, was inmitten der Weltwirtschaftssituation in keinem andern Land Lateinamerikas oder der sogenannten wirtschaftlich entwickelten Länder möglich ist.

Ohne auf andere Gebiete mit hervorragenden sozialen Fortschritten einzugehen, füge ich nur hinzu, daß sich die Bevölkerung zwischen 1953 und 2002 fast verdoppelt hat, die Anzahl der Wohnungen verdreifachte sich und die Anzahl der Personen pro Wohnung verminderte sich von 4,64 im Jahr 1953 auf 3,16 im Jahr 2002. Von ihnen wurden 75,4% nach dem Sieg der Revolution errichtet.

65% der Bevölkerung sind Eigentümer der Wohnung, in der sie leben. Sie zahlen dafür keine Steuern. Die anderen 15% zahlen eine rein symbolische Miete. Vom gesamten vorhandenen Wohnungsfond des Landes verminderte sich die Prozentzahl der Bohios von 33,3% im Jahr 1953 auf 5,7% im Jahr 2002, und die Elektrifizierung derselben erhöhte sich von 55,6% im Jahr 1953 auf 95,5% im Jahr 2002.

Die Zahlen sagen jedoch nicht alles. Die Qualität erscheint nicht in den kühlen Zahlen, und in ihr liegt das wirklich Spektakuläre der von Kuba erreichten Fortschritte.

Unser Land nimmt heute bei weitem den ersten Platz auf der Welt bezüglich der Anzahl von Lehrern und Erziehern pro Kopf ein. Das gesamte Lehrpersonal beläuft sich auf die hohe Zahl von 290 574 Menschen im aktiven Dienst.

Bei Nachforschungen, die zu einer Gruppe der wichtigsten Bildungskennziffern durchgeführt wurden, nimmt Kuba ebenfalls den ersten Platz, noch vor den entwickelten Ländern, ein. Die schon in der Grundschule erreichte Zahl von 20 Schülern pro Lehrer und die Zahl von 15 Schülern pro Lehrer in der Mittelschule - d.h. der siebenten, achten und neunten Klassen - die wir im nächsten Schul­jahr erreichen werden, ist etwas, wovon nicht einmal die reichsten Länder des Planeten träumen können.

Die Zahl der Ärzte beläuft sich auf 67 079. Davon sind 45 599 Spezialisten und 8 858 befinden sich in Ausbildung. Die Zahl des Krankenpflegepersonals beträgt 81 459 und die der Fachkräfte im medizinischen Bereich 66 339, was insgesamt 214 877 Ärzte, Krankenpflegepersonal und Fachkräfte des medizinischen Bereichs ausmacht, die sich den Gesundheitsleistungen widmen.

Die Lebenserwartung beträgt 76,15 Jahre, die Kindersterblichkeit 6,5 pro Tausend Lebendgeborene im ersten Lebensjahr. Das ist die niedrigste in allen Drittländern und auch nie­driger als in mehreren entwickelten Ländern.

Die Anzahl der Lehrer für Körperkultur, Sport und Freizeitbeschäftigung beträgt 36 902, das ist mehr als die Gesamtzahl der Lehrer, die sich vor der Revolution der Bildung und Erziehung widmeten.

Kuba befindet sich im Stadium der völligen Umgestaltung seiner eigenen Bildungs-, Kul­tur- und Gesundheitssysteme, mit denen es so viele Erfolge errang, um, ausgehend von den bisherigen Erfahrungen und den neuen technischen Möglichkeiten, auf niemals erträumte Qualitätsstandards zu gelangen.

Es wird geschätzt, daß sich die aktuellen Kenntnisse, die sich die Kinder und Jugendlichen aneignen, bei voller Anwendung dieser Programme in jedem Schuljahr verdreifachen, und zugleich, daß sich die Lebenserwartung in einem Zeitraum von weniger als fünf Jahren auf 80 Jahre erhöhen soll. Die am meisten entwickelten und reichsten Länder werden niemals die Zahl von 20 Schülern pro Lehrer in der Grundschule und 15 in der Mittelschule erreichen oder die Universitätsausbildung allen Kreisen des gesamten Landes zugänglich machen, noch werden sie kostenlos hervorragende Dienstleistungen im Bildungs- und Gesundheitswesen für alle Bürger anbieten. Ihre wirtschaftlichen und politischen Systeme sind dafür nicht vorgesehen.

In Kuba war der 1953 angegriffene gesellschaftliche und menschliche Alptraum, der der Ursprung unseres Kampfes war, wenige Jahre nach dem Sieg der Revolution von 1959 verschwunden. Bald gab es weder land­lose Bauern , "precaristas" oder Teilpächter, noch Bezahlung von Pachtzinsen; alle waren Eigentümer der Parzellen, die sie einnahmen, noch gab es unterernährte barfüßige Kinder voller Parasiten ohne Schulen (und wenn es nur unter einem Baum wäre) oder Lehrer. Es gab schon kein massenhaftes Sterben wegen Hunger, Krankheiten oder fehlender Mittel und medizinischer Betreuung mehr. Die langen Monate ohne Arbeit verschwanden, es wurden keine Männer und Frauen mehr in ländlichen Gebieten ohne Arbeit gesehen. Es begann eine Etappe der Schaffung und des Baus von Bildungs- und medizinischen, von Wohn-, Sport- und anderen gesellschaftlichen Einrichtungen, zusammen mit Tausenden Kilometern Landstraßen, von Talsperren, Bewässerungskanälen, landwirtschaftlichen Einrichtungen, Zentren zur Stromerzeugung und ihren Überlandleitungen, Industrien für die Landwirtschaft, den Maschinenbau, von Baumaterialien und allem Notwendigen für die anhaltende Entwicklung des Landes.

Die Nachfrage nach Arbeitskräften war so groß, daß es viele Jahre lang notwendig war, bedeutende Kontingente von Männern und Frauen aus den Städten zu landwirtschaftlichen und Bautätigkeiten und zur Industrieproduktion zu mobilisieren, die die Grundlagen für die von unserem Vaterland erreichte außerordentliche gesellschaftliche Entwicklung schufen, über die ich gesprochen habe.

Ich spreche, als ob das Land eine idyllische Oase des Friedens gewesen wäre, als ob es nicht vier Jahrzehnte rigoroser Blockade und von Wirtschaftskrieg, Aggressionen aller Art, massenhaften Sabotagen, Terrorakten, Mord­plänen und eine unendliche Liste von feindlichen Handlungen gegen unser Vaterland gegeben hätte. Ich wollte den Schwerpunkt dieser Rede nicht hierauf legen, um mich auf wesentliche Aspekte der Gegenwart zu konzentrieren.

Es reicht aus zu erwähnen, daß allein die Verteidigungsaufgaben die ständige Verwendung von Hunderttausenden von Männern und von zahlreichen materiellen Mitteln erforderten.

Die harte Schlacht härtete unser Volk ab, lehrte es, gleichzeitig an vielen Fronten zu kämpfen, viel aus sehr wenig zu machen und sich niemals von den Schwierigkeiten unterkriegen zu lassen.

Ein entscheidender Beweis war seine heldenhafte Haltung, seine Hartnäckigkeit und seine unbeugbare Beständigkeit, als das sozialistische Lager verschwand und die UdSSR zerfiel. Die Seite, die es damals schrieb, als niemand auf der Welt auch nur einen Pfennig auf das Überleben der Revolution gesetzt hätte, wird in die Geschichte als eine der größten Heldentaten, die jemals verwirklicht wurden, eingehen. Es tat das, ohne auch nur eines der ethischen und humanitären Prinzipien der Revolution verletzt zu haben, trotz des Geschreis und der Verleumdungen unserer Feinde.

Das Moncada-Programm wurde erfüllt und übererfüllt. Seit langem streben wir nach viel höheren und unvorstellbaren Träumen.

Heutzutage werden große Schlachten auf dem Gebiet der Ideen ausgefochten, und wir begegnen Problemen, die mit der Weltsituation in Verbindung stehen, vielleicht der kritischsten, die die Menschheit je erlebt hat. Dem muß ich unausweichlich einen Teil meiner Rede widmen.

Vor mehreren Wochen, Anfang Juni, verabschiedete die Europäische Union eine infame Resolution, die von einem Grüppchen von Bürokraten erarbeitet worden war, ohne vorherige Analyse der Außenminister selbst und vorgebracht durch eine Person von faschistischer Abstammung und Ideologie: José Maria Aznar. Diese Resolution stellte eine feige und abstoßende Handlung dar, die sich zu der Feindseligkeit, den Bedrohungen und Gefahren gesellte, die für Kuba die aggressive Politik der hegemonialen Supermacht bedeutet.

Sie beschlossen, das, was sie "humanitäre Hilfe" für Kuba nennen, abzuschaffen oder auf ein Minimum zu reduzieren.

Was war diese Hilfe in den letzten Jahren, die sehr hart für die Wirtschaft unseres Landes waren? Im Jahr 2000 belief sich die von der Europäischen Union erhaltene sogenann­te humanitäre Hilfe auf 3,6 Millionen Dollar, im Jahr 2001 auf 8,5 Millionen, im Jahr 2002 auf 0,6 Millionen. Die gerechten Maßnahmen, die Kuba auf absolut legaler Grundlage ergriff, um die Sicherheit unseres Volkes gegenüber schwerwiegenden Gefahren von imperialistischer Aggression zu verteidigen, - etwas, was niemand ignoriert - waren noch nicht angewandt worden.

Wie zu ersehen ist, ergibt die Summe einen Durchschnitt von 4,2 Millionen Dollar jährlich, was sich im Jahr 2002 auf weniger als eine Million verringert hat.

Was bedeutet diese Zahl in Wirklichkeit für ein Land, das zwischen November 2001 und Oktober 2002 die Auswirkungen von drei Hurrikans erlitt, die dem Land Schäden von 2,5 Milliarden Dollar zufügten, zu denen die für unsere Einnahmen zerstörerischen Auswirkungen der Absenkung des Tourismus aufgrund der Terrorakte vom 11. September 2001 gegen die USA hinzukamen, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Zucker- und Nickelpreise und das Ansteigen der Erdölpreise aus verschiedenen Gründen? Was bedeuten sie verglichen mit den 72 Milliarden, die die durch die USA-Regierungen während vier Jahrzehnten verhängte Wirtschaftsblockade gekostet hat und der gegenüber diese - aufgrund eines exterritorialen und grausamen Gesetzes, wie des Helms-Burton-Gesetzes, das die Wirtschaftsinteressen der europäischen Union selbst beeinträchtigte - zu einer beschämenden Verständigung kam, durch die sie sich verpflichtete, ihre Unternehmer nicht zu unterstützen, wenn diese Geschäfte mit Kuba machen, und zwar gegen vage Versprechungen, daß sie dieses Gesetz nicht auf ihre Investitionen in den USA anwenden würden?

Mit den staatlichen Stützungen für die Zuckerpreise während der gesamten Zeit, die die Blockade durch die USA gedauert hat, verminderte die Europäische Union die Einnahmen Kubas um mehrere Milliarden Dollar.

Die Zahlungen Kubas an die Länder der Europäischen Union für Importe erreichten in den letzten fünf Jahren 7,5 Milliarden Dollar, im Durchschnitt ungefähr 1,5 Milliarden jährlich. Andererseits importierten diese Länder in den letzten fünf Jahren Erzeugnisse aus Kuba nur im durchschnittlichen Wert von 571 Millionen jährlich. Wer hilft nun wirklich wem?

Außerdem ist die berühmte humanitäre Hilfe gewöhnlich mit bürokratischen Verzögerungen und unzulässigen Bedingungen verknüpft, wie zum Beispiel die, Fonds vom Gegenwert in Nationalwährung zu schaffen, und zwar zum Wechselkurs, um andere Projekte in Nationalwährung zu finanzieren, über die die Entscheidungen unter Teilnahme Dritter zu treffen sind.

Das heißt, wenn die Europäische Kommission eine Million Dollar übergab, beanspruchte sie, daß die kubanische Seite für diese Million 27 Millionen kubanische Pesos zahle, um andere Projekte in dieser Höhe in Nationalwährung zu finanzieren. Bei den Beschlüssen zur Ausführung müßten europäische NGOs teilnehmen. Diese absurde Bedingung, die niemals akzeptiert wurde, paralysierte praktisch den Zufluß der Hilfe für eine Gruppe von Projekten für drei Jahre, und anschließend begrenzte sie diese bedeutend.

Zwischen Oktober 2000 und Dezember 2002 verabschiedete die Europäische Kommission förmlich vier Projekte für einen Betrag von ungefähr 10,6 Millionen Dollar (fast alles für fachliche Betreuung bei Verwaltungs-, Rechts- und Wirtschaftsthemen) und nur 1,9 Millionen Dollar für Nahrungshilfe. Nichts davon wurde verwirklicht aufgrund der Langsamkeit der bürokratischen Mechanismen jener Einrichtung. In allen Berichten der Europäischen Union erscheinen diese Beträge jedoch als "für Kuba genehmigt". Aber die Realität ist, daß bis zum jetzigen Datum kein Cent von diesem Fonds in unser Land gekommen ist.

Es muß berücksichtigt werden, daß die europäische Kommission und ihre Mitglieder  in allen ihren Berichten über Kuba zusätzlich die sogenannten indirekten Kosten berechnen, solche wie Reisen in ihren eigenen Luftgesellschaften, Beherbergung, Reisespesen, Gehälter und Luxus auf Erste-Welt-Niveau. Die angeblich verausgabte Hilfe, die direkt das Projekt beeinflußt, wird um diese Ausgaben vermindert, die am Ende keinen Nutzen für das Land darstellen, die sie aber aus klaren Publizitätsgründen als Teil ihrer "Großzügigkeit" abrechnen.

Es ist wirklich empörend, Kuba mit jenen Maßnahmen unter Druck setzen und einschüchtern zu wollen. Kuba, ein kleines belagertes und blockiertes Land, ist nicht nur in der Lage gewesen zu überleben, sondern auch vielen Ländern der Dritten Welt zu helfen, die jahrhundertelang durch die europäischen Metropolen ausgebeutet wurden.

Während 40 Jahren haben mehr als 40 000 Jugendliche aus mehr als 100 Ländern der Dritten Welt in Kuba ihre Studien als Universitätsabsolventen und qualifizierte Fachkräfte ohne jegliche Kosten abgeschlossen, 30 000 aus Afrika stammend, ohne daß unser Land ihnen auch nur einen einzigen gestohlen hätte, wie es die Länder der Europäischen Union mit vielen der besten Talente tun. Während dieser ganzen Zeit haben andererseits mehr als 52 000 kubanische Ärzte und Mitarbeiter des Gesundheitswesens freiwilligen und kostenlosen Dienst in 93 Ländern geleistet, wobei sie Millionen von Leben gerettet haben.

Selbst ohne daß wir völlig aus der Spezialperiode herausgekommen wären, gab es im ver-gangenen Jahr 2002 schon mehr als 15 000 Jugendliche der Dritten Welt, die kostenlos ein Hochschulstudium in unserem Land absolvieren, darunter 3 000, die sich als Ärzte ausbilden. Wenn man nachrechnet, was sie in den USA und Europa bezahlen müßten, dann entspricht das einer Spende von mehr als 450 Millionen Dollar in jedem Jahr. Wenn man die 3 700 Ärzte hinzurechnet, die im Ausland an den entlegensten und schwierigsten Orten Dienst tun, müßte man fast weitere 200 Millionen hinzuzählen, wenn man die Gehaltskosten zugrunde legt, die die WGO jährlich für einen Arzt zahlt. Zusammen ein Wert von 700 Millionen Dollar. Das kann unser Land nicht ausgehend von seinen Geldmitteln tun, sondern ausgehend von dem außerordentlichen Reichtum an Menschen, den die Revolution geschaffen hat. Das sollte der Europäischen Union als Beispiel dienen und sie bezüglich der miserablen und wirkungslosen Hilfe beschämen, die sie jenen Ländern leistet.

Während die kubanischen Kämpfer ihr Blut vergossen, indem sie gegen die Apartheidsol­daten kämpften, tauschten die Länder der Europäischen Union jedes Jahr Milliarden Dol­lar an Waren mit den südafrikanischen Rassisten aus, und durch ihre Investitionen zogen sie Nutzen aus der billigen sklavenähnlichen Arbeit der eingeborenen Südafrikaner.

Am 20. Juli, vor kaum einer Woche, ratifizierte die Europäische Union in einer vielbesprochenen Versammlung, um die beschämende Gemeinsame Position zu überprüfen, die gegen Kuba am 5. Juni angenommenen infamen Maßnahmen und erklärte, daß sie der Meinung wäre, der politische Dialog sol­le fortgeführt werden "zwecks der Förderung einer wirksameren Suche nach dem Ziel einer Gemeinsamen Position".

Die Regierung Kubas verzichtet aus einem elementaren Sinn für Würde auf jegliche Hilfe oder Reste humanitärer Hilfe, die die Kommission und die Regierungen der Europäischen Union anbieten könnten. Unser Land würde diese Art von Hilfe, egal wie bescheiden sie wäre, nur von den regionalen und lokalen Selbstverwaltungen, den NGOs und Solidaritätsbewegungen annehmen, die Kuba keine politischen Bedingungen auferlegen.

Die Europäische Union macht sich Illusionen, wenn sie behauptet, daß der politische Dialog weitergeführt werden soll. Die Souveränität und Würde eines Landes wird mit nie­mandem diskutiert, und noch viel weniger mit einer Gruppe ehemaliger Kolonialmächte, die historisch gesehen für den Sklavenhandel, die Plünderung und sogar die Vernichtung von ganzen Völkern verantwortlich sind, die verantwortlich sind für die Unterentwicklung und Armut, in der heute mehrere Milliarden Menschen leben, die sie weiter ausbeuten, und zwar mittels des ungleichen Austauschs, der Ausbeutung und des Verschleuderns ihrer Naturschätze, durch eine unbezahlbare Auslandsschuld, den Raub ihrer besten Köpfe und anderer Verfahrensweisen.

Der Europäischen Union fehlt die ausreichende Freiheit, um mit vollkommener Unabhängigkeit einen Dialog zu führen. Ihre Vereinbarungen mit der NATO und den USA, ihr Verhalten in Genf, wo sie gemeinsam mit denen handeln, die Kuba zerstören wollen, sprechen ihr die Fähigkeit für einen konstruktiven Austausch ab. Ihr werden sich bald Länder, die früher der sozialistischen Gemeinschaft angehörten, anschließen. Die opportunistischen Regierungen an ihrer Spitze, die den USA-Interessen treuer sind als denen Europas, werden Trojanische Pferde der Supermacht in der Europäischen Union sein. Sie sind voll von Haß gegen Kuba, das sie allein gelassen haben und dem sie nicht verzeihen, widerstanden und bewiesen zu haben, daß der Sozialismus in der Lage ist, eine tausend Mal gerechtere und humanere Gesellschaft zu erreichen als das verfaulte System, das sie angenommen haben.

Als die Europäische Union geschaffen wurde, haben wir applaudiert, weil es das einzige Intelligente und Nützliche war, was sie als Gegengewicht gegen den Hegemonismus ihres mächtigen militärischen Alliierten und Wirtschaftskonkurrenten tun konnten. Wir haben auch beim Euro Beifall geklatscht als etwas Angebrachtes für die Weltwirtschaft gegenüber der erdrückenden und fast absoluten Macht des Dollar.

Wenn sie im Gegensatz dazu arrogant und berechnend und auf der Suche nach Versöhnung mit den Herrschenden der Welt Kuba beleidigen, verdienen sie nicht die geringste Rücksichtnahme oder den Respekt unseres Volkes.

Der Dialog in den internationalen Foren, um die schwerwiegenden Probleme zu diskutieren, die die Welt bedrohen, muß öffentlich sein.

Wir werden nicht versuchen, die Prinzipien der Europäischen Union oder Nicht-Union (Einigkeit oder Uneinigkeit) zu diskutieren. Mit Kuba treffen sie auf ein Land, das weder Beherrscher anerkennt noch Bedrohungen ak­zeptiert oder bettelt, noch dem der Mut fehlt, die Wahrheit zu sagen.

Sie brauchen es, daß jemand ihnen ein paar Wahrheiten sagt, da viele ihnen aus Eigennutz oder einfach entzückt von dem Pomp des vergangenen Ruhms von Europa schmeicheln. Warum kritisieren Sie nicht Spanien oder helfen ihm, den schlimmen Zustand seines Bildungswesens zu verbessern, der auf Bananenrepublik-Niveau eine Schande für Europa ist? Warum eilen Sie nicht Großbritannien zu Hilfe, um zu verhindern, daß die Drogen die stolze Rasse ausrotten? Warum analysieren und helfen Sie nicht sich selbst, da Sie es so sehr nötig haben?

Die Europäische Union würde gut daran tun, weniger über die wirklichen Menschenrechte der großen Mehrheit der Völker der Welt zu reden und mehr für sie zu tun, mit Intelligenz und Würde gegenüber denjenigen zu handeln, die ihnen nicht einen Krümel der Ressourcen des Planeten lassen wollen, die sie zu erobern beabsichtigen; ihre kulturelle Identität gegenüber der Invasion und Durchdringung durch die mächtigen transnationalen Unternehmen der US-amerikanischen Vergnügungsindustrie zu verteidigen; sich um ihre Arbeitslosen zu kümmern, die Dutzende Millionen betragen; ihre funktionellen Analphabeten zu bilden; den Immigranten eine menschliche Behandlung zukommen zu lassen; für alle ihre Bürger eine wirkliche Sozialversicherung und ärztliche Betreuung abzusichern, wie es Kuba tut; ihre Konsum- und Verschwendungsgewohnheiten zu mäßigen; abzusichern, daß alle ihre Mitglieder das eine Prozent ihres BIP als Beitrag für die Entwicklung der Dritten Welt beitragen, wie es einige schon tun, oder um zumindest ohne Bürokratie oder Demagogie ihre schreckliche Situation der Armut, der Gesundheitsmisere und des Analphabetentums zu lindern; Afrika und andere Regionen wegen des ihnen über Jahrhunderte durch die Sklaverei und den Kolonialismus zugefügten Schadens zu entschädigen; den noch bestehenden kolonialen Enklaven, die sie noch in dieser Hemisphäre aufrechterhalten - von der Karibik bis zu den Falklandinseln - freizugeben, ohne ihnen die Wirtschaftshilfe zu entziehen, auf die sie wegen des ihnen zugefügten Schadens und die erlittene koloniale Ausbeutung historisch Anspruch haben.

Zu einer unendlichen Liste könnte man hinzufügen:

Eine Politik zur wirklichen Unterstützung der Menschenrechte mittels Tatsachen und nicht leerem Gerede zu betreiben; zu untersuchen, was wirklich mit den von den antiterroristischen Befreiungsgruppen (GAL) ermordeten Basken geschah und Verantwortung fordern; die Welt darüber informieren, wie der Wissenschaftler David Kelly brutal ermordet wurde oder auf welche Art und Weise man ihn zum Selbstmord brachte; irgendwann einmal die Frage zu beantworten, die ich in Rio de Janeiro zur neuen strategischen NATO-Konzeption bezüglich der Länder La­teinamerikas stellte; sich entschlossen und mit Standhaftigkeit der Doktrin des Überraschungs- und vorbeugenden Angriffs gegen jegliches Land der Welt zu widersetzen, die von der mächtigsten Militärmacht, die jemals existierte, ausgerufen wurde, von der sie wissen, wohin deren Folgen die Menschheit führen.

Kuba zu verleumden und ihm Sanktionen aufzuerlegen ist, abgesehen davon, daß es ungerecht und feige ist, lächerlich. Ausgehend von dem großartigen Reichtum an selbstlosen Menschen, den es geschaffen hat und welchen Sie nicht beachten, braucht Kuba die Europäische Union nicht, um zu überleben, sich zu entwickeln und zu erreichen, was sie niemals werden erreichen können. Die Europäische Union muß ihre Arroganz und Anmaßung mäßigen.

Überall tauchen mit großem Elan neue Kräfte auf. Die Völker sind der Bevormundung, der Einmischung und Plünderung müde, die durch Mechanismen auferlegt werden, die die am meisten Entwickelten und Reichen auf Kosten der wachsenden Armut und des Ruins der anderen übervorteilen. Ein Teil jener Völker schreitet schon mit unhaltbarer Kraft voran. Andere werden sich ihnen anschließen. Unter ihnen gibt es Giganten, die erwachen. Diesen Völkern gehört die Zukunft.

Im Namen von 50 Jahren des Widerstandes und Kampfes ohne Waffenstillstand gegenüber einer mehrmals größeren Macht als ihrer und der von Kuba ohne jegliche Hilfe der Länder der Europäischen Union erreichten sozialen und menschlichen Fortschritte lade ich Sie ein, ruhig über Ihre Fehler nachzudenken, ohne sich durch übermäßige Wut oder euronarzistischen Rausch hinreißen zu lassen.

Weder Europa noch die USA werden das letzte Wort über das Schicksal der Menschheit sprechen.

Ich möchte Ihnen etwas Ähnliches versichern wie das, was ich vor dem bastardischen Gericht, das wegen des Kampfes, den wir vor jetzt genau fünf Jahrzehnten begonnen haben, über mich Gericht gehalten und mich verurteilt hat. Aber dieses Mal werde nicht ich es sein, der es sagt; ein Volk, das eine tiefgreifende, vorwärtsweisende historische Revolution durchgeführt hat und sie zu verteidigen wußte, bestätigt und prophezeit es:

Verurteilt mich, das macht nichts! Die Völker werden das letzte Wort sprechen!

Ewiger Ruhm den während der 50 Jahre Kampf Gefallenen!

Ewiger Ruhm dem Volk, das seine Träume in Realitäten verwandelt hat!

Wir werden siegen!

 

 

Dokumentationen

zur Diskussion mit und unter Sozialisten:

Möglichkeiten und Grenzen für die Anwendung

des Faschismusbegriffs auf heutige Zeiten

von Manfred Weißbecker *

3


Nach wie vor leben wir in Verhältnissen, die als imperialistisch zu bezeichnen sind. Sowohl die Internationalisierungsprozesse, häufig als Globalisierung bezeichnet, die Infragestellung demokratischer Verfassungsgrundsätze als auch die barbarischen Kriege der letzten Jahre bestätigen diese Auffassung. Mehr noch: Erst jetzt scheint die kapitalistische Wirtschaftsordnung zum vollen Durchbruch gelangt zu sein, zugleich wird Stück für Stück zurückgenommen, was sie an politischem Fortschritt gebracht hat bzw. was gegen sie durchgesetzt werden konnte. Immer stärker werdende Multis und Mächte unterwerfen sich immer größere Teile der Welt, dabei weder Gewalt, Terror noch Kriege scheuend, sicherheitspolitische Erwägungen und Standortkriterien über demokratische Rechte und Freiheiten stellend. Ob allerdings der vor allem in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gehörende Begriff des Faschismus auf die heutigen Verhältnisse angewendet werden kann, ist eine ganz andere Frage. Ihre Beantwortung führt m. E. über die Analyse der Grundkonstanten faschistischen, speziell des nazistischen Denkens und Handelns.

Grundkonstanten

Eine solche Konstante sehe ich in der Tatsache, daß der Faschismus auf dem Boden kapitalistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse entstanden und wirksam geworden ist. Niemals verfolgte er das Ziel, diese anzutasten oder auch nur in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Der Faschismus wurde in einer von mächtigen sozialen und nationalen Bewegungen erschütterten Zeit geboren, und die aus ihr hervorgegangenen Regime waren ihrem tiefsten Wesen nach gegenrevolutionär. Letzteres gewiß nicht nur im Blick auf das Jahr 1917/18, sondern auch in Hinsicht auf das Jahr 1789. Ihre Selbsteinschätzung als revolutionär ändert nichts an der getroffenen Feststellung. Die allgemeinste Bedingung für den Aufstieg des Faschismus in Deutschland und für die Regierungsübergabe an Hitler bestand in dem verbreiteten Bedürfnis der Oberschichten der Gesellschaft nach dauerhafter Stabilisierung des Kapitalismus, die nach innen wie nach außen neue Bewegungsfreiheit schaffen sollte. Es handelte sich beim Faschismus keineswegs nur um eine von Teilen der Eliten gepäppelte bzw. finanzierte Organisation, sondern um eine der damaligen Zeit zuzuordnende Ausgeburt der bürgerlichen Gesellschaft, um eine der möglichen Folgen des Dranges ökonomisch und politisch Mächtiger nach Maximalprofit und Expansion, um einen ihrer Versuche, immanente ökonomische und/oder politische Krisen mit allen Mitteln bewältigen zu wollen. In dieser Hinsicht war der Faschismus Ergebnis und extremster Ausdruck von Bemühungen, effektivste Kapitalverwertungsbedingungen zu schaffen, selbst wenn dies nur durch verbrecherische und völkerrechtswidrige Politik, durch Kriege und jedwede Aufhebung der ursprünglich aufklärerisch-humanistischen Anliegen des Bürgertums und aller im Laufe der Zeit insbesondere von der Arbeiterbewegung durchgesetzten Beschränkungen seiner Macht erreicht werden konnte.

Da wir wieder unter solchen Verhältnissen leben, kann es zu vergleichbaren Erscheinungen kommen. Es muß nicht dazu kommen, so daß also in erster Linie die Gesamtheit der konkreten Konstellationsbedingungen zu prüfen sowie der Grad des Widerstandes gegen entsprechende Bestrebungen zu bestimmen wären. Sollte sich dennoch Vergleichbares durchzusetzen vermögen, träte es ganz gewiß in neuer Gestalt auf, verlangte also ohnehin nach neuer Analyse und sicher auch nach neuer Begrifflichkeit. Die um einen Vergleich bemühte Erinnerung an vormalige Zustände kann lediglich als ein Ausgangspunkt neuer Überlegungen dienen. Ihre Begrenztheit hatte sich übrigens schon in der Weimarer Zeit gezeigt, als manche, auch Kommunisten, in der neuen Bewegung des Faschismus nichts anderes als die Gefahr monarchistischer Wiederkehr erblickten und als selbst die wunderschöne Fotomontage John Heartfields über Hitler als Kopie von Wilhelm Zwo in die Irre führte. (Ihr Titel lautete: "S. M. Adolf", AIZ, 21. 8. 1932). Noch 1930 sah sich Carl von Ossietzky veranlaßt zu erklären, es gehe nicht mehr um Fridericus, sondern um Hitler, die Gefährlichkeit des Monarchismus und des Militarismus bestehe nunmehr vorrangig in den "Zutreiberdiensten" für die Nazis. (Weltbüh­ne, 23. 12. 1930)

Auf Verwandlung gefaßt sein

Erinnerung dient, wie mir scheint, eher der Mahnung und Warnung als der Analyse. Das gilt wohl auch für das bemerkenswerte Wort von Günter Grass, zu dem er sich bei der Betrachtung der gegenwärtigen Außenpolitik der USA veranlaßt sah: "Im Zustand eines großen deprimierenden Vakuums könnte es passieren, daß eine neue Form des Faschismus aufkommt, dessen Gesicht wir uns heute noch nicht vorstellen können. Aber wir sehen sehr wohl Anzeichen." (ND, 31. 12. 2002) Grass läßt zwar offen, was er unter einem gesellschaftlichen Vakuum versteht, doch trifft seine Auffassung zu, sich bei der Wahrnehmung einer Gefahr nicht auf alte Bilder zu fixieren, sondern auf deren Verwandlung gefaßt zu machen. "Neue Formen" müssen sich nicht zwangsläufig an alten Modellen orientieren, im Gegenteil. Mehr scheint dafür zu sprechen, daß das zur Zeit existierende politische und gesellschaftliche System in den USA wie auch in vielen europäischen Staaten Möglichkeiten genug besitzt, um in der Außenpolitik solche Praktiken und Ziele zu adaptieren, von denen bisher geglaubt wurde, sie wären mit dem "klassischen" Faschismus untergegangen und ein für allemal diskreditiert. Analog dazu bieten sich wohl auch hinreichende Möglichkeiten zur Bewahrung innenpolitischer Verhältnisse, denken wir nur daran, daß es vormals für die Faschisten galt, nicht allein die als jüdisch diffamierte Kommunistische Internationale zu bekämpfen, sondern auch noch eine sozialreformerische international verbundene Sozialdemokratie. Schließlich sollte den Herrschenden Lernfähigkeit nach Desastern nicht abgesprochen werden.

Die zweite Grundkonstante des traditionellen Faschismus stellt seine nationalstaatlich begrenzte, grundsätzlich nationalistische sowie seine zugleich expansions- und kriegsorientierte Ideologie völkisch-rassischen Zuschnitts dar. Faschismus beruhte auf Existenz und Konkurrenz von Nationen, genauer: auf der Tatsache der in Europa vollendeten Nationen- und Nationalstaatsbildung sowie auf der Möglichkeit, Kriege zwischen Staaten und Mächteblöcken mit einiger Aussicht auf Erfolg führen zu können. Faschismus kam aus dem Ersten Weltkrieg, dem bis dahin denkbar extremsten Austragungsfeld dieser Konkurrenz. Er lebte vom ungebändigten, sich nach Krieg und trotz Revolution in große Teile der Gesellschaft hineinfressenden Militarismus der Freikorps und parteigebundenen Kriegerverbände. Er profitierte von vielgestaltiger Verherrlichung des Krieges und seiner Akzeptanz als Ausdruck des "Kampfs ums Dasein" und als angeblich unabänderliche Erscheinung menschlichen Zusammenlebens. Insbesondere die Politik des deutschen Faschismus zielte auf neue Kriege und auf Kriege neuen Typs, und sie war weit mehr als nur revanchistisch, nationale Gefühle mit Rassismus und Antisemitismus mischend. An die Macht gebracht tarnte er sich zwar als friedfertig, ging aber vom ersten Tage seines Regimes an auf Eroberungskrieg aus und bewegte sich tagtäglich auf Kriegspfaden. Andere nationale Faschismen schlugen zumindest geistig in die gleiche Kerbe, wenn ihnen die materiellen Voraussetzungen fehlten. Krieg könnte also als das vorwiegend rassistisch-sozialdarwinistisch begründete Lebenselixier des Faschismus verstanden werden. Absolut menschen- und menschenrechtsfeindliche Zwecke heiligten den Einsatz aller verfügbaren Mittel je nach politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Erfordernis. Politische Massenverbrechen prägten seine nationalistische Militärdoktrin.

Nimmt man nun sowohl den extremen Nationalismus als auch den aggressiven Expansionismus als wesentliche Faschismuskriterien, dann wäre heute am ehesten von einer Annäherung der USA an das historische Modell des Faschismus zu sprechen. Jeder weiß, daß gerade im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten jüngst sich patriotisch äußernde Egoismen an die Oberfläche gespült worden sind. Es bleibt aber zu berücksichtigen, daß die amerikanische Nation weniger geschlossene völkisch-ethnische Wurzeln aufweist und sich in geringerem Maße an ihnen orientiert als die in Europa über viele Jahrhunderte hinweg gewachsenen Nationen. Das mag vielleicht Arundhati Roy dazu gebracht haben zu sagen, es gebe nur eine einzige Nation in der Welt, die mächtiger sei als die US-Regierung: "die amerikanische Bürgergesellschaft", die über eine reiche Tradition des Widerstandes verfüge. (www.cesr.org.)

Es ist auch nicht zu übersehen, daß heutzutage Sicherung und Erweiterung der Kapitalherrschaft auf einer sich immer stärker internationalisierenden Grundlage stattfinden. Die Herrschenden haben zudem keine überstandene Revolution hinter sich, ihre Machtpositionen werden kaum von revolutionären Kämpfen bedroht. Kämpfe zwischen rivalisierenden Kapitalgruppen können nicht mehr, jedenfalls nicht mehr mit Nutzen für die eine oder andere Seite, von hochindustrialisierten Staaten mit schwerstbewaffneten Armeen ausgetragen werden. In militärischen "Bündnissen suchen die Beteiligten, sich gegenseitig unter Kontrolle zu halten. Trotz starker Differenzen scheint das Ausbrechen eines von ihnen unmöglich zu sein. Ihrer "Gegner" sind weniger andere Staaten und Machtblöcke, sie werden neuerdings unter dem Begriff "internationaler Terrorismus" geführt, und was immer das auch konkret sein mag, das Diffuse an ihm bietet so manchen Vorteil. Wer die Macht hat, kann bekanntlich zum Terroristen erklären, wen er dazu auserkoren hat und wann immer es einen Vorteil verspricht. Ein Überfall auf den Gleiwitzer Sender muß nicht organisiert werden, es genügt die Rederei über Massenvernichtungswaffen oder Beziehungen zu Al Qaida.

Was also soll unter solchen Bedingungen ein hauptsächlich das Wohl der eigenen Nation verfolgendes faschistisches Regime? Die Herrschaft des Kapitals läßt sich heutzutage um so vieles eleganter organisieren, unblutiger, drapiert mit dem unglaubwürdigen, dank ausgeklügelter Werbungstechniken aber vielfach geglaubten Anspruch, die humansten aller überhaupt denkbaren Verhältnisse welt­weit herstellen zu wollen. Die kapitalistische Gesellschaft muß nicht faschistisch geprägt sein, um hochgradig kriminell zu werden und Kriegsverbrechen zu begehen.

Die dritte Grundkonstante des traditionellen Faschismus bestand in der striktesten Ablehnung bürgerlich-parlamentarischer Demokratie. Diese betrachtete er lediglich als schändliche Grundlage aller Versuche, zu der auf Privateigentum an den Produktionsmitteln und dem Ellbogenprinzip der Konkurrenz beruhenden Gesellschaft eine wirkliche Alternative zu schaffen. Damit ging eine völlig entdemokratisierte, auf terroristische Einschüchterung und Reglementierung beruhenden Herrschaftspraxis konform, die - ohne Veränderung grundlegender Eigentumsverhälktnisse - in allen Lebensbereichen das dem Militärwesen entlehnte Führer-Gefolg­schaftsprinzip realisiert sehen wollte.

Mir scheint, die heute dominierenden kapitalistischen Kräfte, die deutschen eingeschlossen, müssen sich staatlich nicht faschistisch organisieren, um ihre Ziele im Innern wie nach außen entschlossen zu verfolgen und erreichen zu können. Aus deshalb will es mir als sehr sinnvoll erscheinen, eine neue, auf materialistisch-dialektischen Prinzipien beruhende Demokratietheorie zu entwickeln und den eigenen antikapitalistischen Bemühungen zugrunde zu legen, sinnvoller jedenfalls als sich lediglich auf Präzisierung und Vervollkommnung von Faschismustheorien kaprizieren zu wollen.

Arge Parallelen

Als eine vierte Grundkonstante des Faschismus sehe ich sein "sozialistisch" verpacktes Angebot an die als "entnationalisiert" bzw. internationalistisch bewerteten Arbeitermas­sen und das Scheinbild einer "deutschen Volksgemeinschaft", in der - so wurde es versprochen - alle gut leben würden, wenn es gelänge, sich andere Völker unterzuordnen. Tatsächlich war das Hitler-Regime erfolgreich auf dem Wege, eine Harmonisierung der Deutschen zu erreichen, unabhängig davon, welche Stellung sie - oben oder unten - in dieser Gesellschaft einnahmen. Jeder sollte, wenn er nur als "Arier" anerkannt war, in dieser Gesellschasft und durch sie gewinnen, und zwar in ganz materiellem Sinne. Niemand sollte verlieren. Besserung der eigenen Lage wurde allen versprochen, erreicht werden sollte dies auf dem Wege von "deutscher Arbeit" und einer Wirtschaft ohne Streiks und andere Störungen. "Deutschland arbeitet" - lautet eine der Losungen. Doch wofür? Die Masse der Deutschen wollte zwar nicht den Krieg, aber sie schuftete für ihn. Und bekannt ist ebenso, daß sehr vielen der Gedanke durchaus gefiel, auf Kosten anderer Völker selbst besser als zuvor leben zu können, auch um den hohen Preis, der zu erwarten war.

Gerade in dieser Hinsicht drängen sich mir arge Parallelen auf, bedenkt man, in welchem Maße Hochrüstung als Arbeitsplatzsicherung akzeptiert, wie zu Lasten und auf Kosten der "dritten Welt" gelebt wird, wie unter den Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit Entsolidarisierung um sich greift. Es muß schon sehr verwundern, in welch geringem Maße den Globalisierern und Nutznießern internationaler Finanzpraktiken ein Internationalismus der Betroffenen und Geschädigten entgegengesetzt wird.

Masseneffekte

Erwähnen will ich fünftens wenigstens noch die Tatsache, daß der traditionelle Faschismus in großem Stile Massen zu gewinnen und zu organisieren vermochte. Daher ist immer und immer wieder zu fragen, unter welchen Umständen und mit welchen Methoden die NSDAP zur mitgliederstärksten Partei der deutschen Geschichte hat werden können, weshalb sie nahezu neun bis zehn Millionen Mitglieder umfaßte und das denkbar ausgeprägteste und umfassendste Organisationssystem, besaß. Sie erreichte einen bis 1933 unbekannten flächendeckenden Grad individueller und gesellschaftlicher Organisiertheit der Bevölkerung und wuchs nach 1933 zum Träger einer faschistischen deutschen "Organisationen"-Gesellschaft heran, in der sich kaum einer - ob jung oder alt, Mann oder Frau, Zivilist oder Soldat usw.- dem Einfluß ihres breitgefächerten Systems von Gliederungen, angeschlossenen Verbänden und betreuten Organisationen entziehen konnte.

Der NSDAP lag, wie sie es in völliger Übereinstimmung mit dem konservastiven Publizisten Arthur Moeller van den Bruck formulierte, an einer "Nationalisierung" der deutschen Arbeiter, mithin an der Gewinnung einer vorwiegend proletarischen Massenbasis. Dies ließ von vornherein jede Verwendung sozialpolitischer oder gar "sozialistischer" Formeln als zweckbezogenes Mittel erscheinen. Das Wesen dieser Partei läßt sich an ihnen nicht erkennen, eher an ihrer Programmatik und an ihrem Verhalten. Die Millionengefolgschaft der NSDAP stellte eine Voraussetzung ihres Erfolgunges dar und geriet zugleich zu einem ihrer wichtigsten Kennzeichen, obgleich sie zu keiner Zeit das Programm, den Kurs und das Ziel der Partei bestimmte - das tat ihre Führungsgruppe, in deren Kalkül jene Millionen Mitglieder und Wähler bereits vor 1933 ein unentbehrliches Instrument im Kampf um die Staatsmacht dargestellt hatten. Ich meine, das faschistische Regime hätte ohne diesen Anhang nicht funktionieren können. Ohne die "willigen" Helfer aus seinen Reihen wären kein totaler Krieg, keine barbarische Okkupationspolitik und erst recht kein Völkermord zu realisieren gewesen, ohne sie hätte während des Zweiten Weltkrieges das System der rund 20 000 Zwangsarbeiterlager nicht geschaffen werden können, ohne sie wäre der Krieg nicht bis "fünf Minuten nach zwölf" geführt worden. Die meisten Deutschen haben sich dem Einfluß der NSDAP nicht entziehen wollen und identifizierten sich sowohl mit den expansionistischen als auch mit den vorgeblich sozialistischen Ambitionen der Nazis. Aber: Handelt es sich um ein spezifisches Problem faschistischer Parteien, wenn Massen gewon­nen werden sollen, ohne ihre Lage und ihre Interessen in irgendeiner Weise zu berühren? Ich denke, das ist das Anliegen aller politi­schen Parteien. Alle müssen es versuchen, alle sind bei Strafe ihres Untergangs gezwungen, danach zu streben.

Die Modelle aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen sind diskreditiert. Allenfalls gehört ihre Wiederbelebung zu den Möglichkeiten weiterer Entwicklungen, auf absehbare Zeit sprechen gewichtige Interessen dagegen und überwiegt - möglicherweise wäre zu sagen: noch - die Scheu, direkt an das bei den Verbündeten ebenso wie bei der Mehrzahl der Deutschen diskreditierte Modell anknüpfen zu wollen.

Dieser Aussage steht keineswegs entgegen, daß mit neuen Interessenkonstellationen neue und durchaus vergleichbar schreckliche Gefahrenherde in Erscheinung treten. Wir könn­ten es zu tun bekommen mit einer verstärk­ten Handhabung solcher Praktiken, die vor­rangig Markenzeichen faschistischer Regime darstellen, vor allem mit solchen, die oh­nehin nicht deren ureigene Erfindungen und Schöpfungen gewesen sind, denkt man z. B. an den Terrorismus gegenüber politischen Geg­nern, an Konzentrationslager, Vertreibungen, genozidale Aktionen, geheimdienstliche Täuschungsmanöver, an Friedensdemagogie und Kriegsrechtfertigung. Einmal gemachte Herrschaftserfahrungen gehen nicht verloren; der Faschismus bildet eine von ihnen. Mit Nach
beterei früher verwendeter bzw. für vergangene Zeiträume geltender Definitionen, Begriff und Schlagwörter allein kommt keiner weiter. Wir leben in neuen Verhältnissen, doch für sie sind adäquate Begriffe noch nicht gefunden.



 

Der abgewürgte Streik

von Hans-Jochen Vogel *


Es riecht nach Intrige. Der Vorsitzende der IG Metall, Klaus Zwickel, erklärte nach einem "Spitzengespräch" den Streik für gescheitert, bevor sich der Gewerkschaftsvorstand und die Tarifkommission mit dem Sachstand befassen konnten. Zum Sündenbock machte er den für seine Nachfolge no­minierten, von ihm aber abgelehnten Jürgen Peters, der als vergleichsweise konsequenter Vertreter der Interessen der abhängig Beschäftigten gilt und sich kürzlich in der SPD am Mitgliederbegehren gegen die regierungsamtliche Politik des Sozialabbaus beteiligt hatte. Wollte Zwickel, Mitglied des Gewerkschaftsrates der SPD, der Regierung Schröder beispringen? Gewerkschaft als Transmissionsriemen der Partei? Sollte in einer Zeit, in der sich eine neue weltweite kapitalismuskritische Bewegung herausbildet und bei Gewerkschaften und Gewerkschaftern Verbündete sucht und findet, ein Haltesignal gesetzt werden?

Im Bermuda-Dreieck von westdeutschen Konzern-, Gewerkschaftsfunktionärs- und SPD-Machterhaltsinteressen versanken die Forderungen der ostdeutschen Lohnabhängigen. In den westdeutschen Belegschaften wurde unzureichend mobilisiert, Daß im Osten auch über ihre Zukunft mitentschieden und ihre Gewerkschaft insgesamt vorgeführt wurde, ist aber inzwischen vielen bewußt geworden. Ihr Zorn über das Verhalten von Funktionären, die den ostdeutschen Kollegen in den Rücken gefallen sind, wird nicht ohne Folgen bleiben.

Die Art und Weise, wie der Streik abgewürgt wurde, ist nach meinem Verständnis Indiz einer schleichenden Faschisierung: Fast unisono wurde aus allen Medien gegen den Streik und die Streikenden gehetzt. Regierende und noch nicht regierende Politiker, die als mögliche Vermittler ein ausreichen-des Maß an Neutralität bewahren sollten, betätigten sich ohne Hemmungen als Sprachrohre der Kapitalinteressen. In der Presse und den elektronischen Medien wurde den ohnehin nicht durch intellektuelles Niveau verwöhnten Konsumenten in allen Variationen eingebläut, wie verantwortungslos der Streik doch sei. Kein Argument war dabei zu dumm, keine Begründung schamlos genug.

Ob man nun dem Publikum weiszumachen versuchte, daß längere Arbeitszeiten zu mehr Arbeitsplatzsicherheit führen oder Einkom­mensverzichte Wirtschaftsaufschwung bewirken würden - es funktionierte: Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung ließ sich gegen die Streikenden aufhetzen. Die Streikposten wurden beschimpft und mit dem Stinkefinger provoziert. Öffentliche Bekundungen der Streikgegnerschaft zugunsten des "Stand­orts Ostdeutschland" oder "Sachsen" wurden organisiert. In Südwestsachsen unterstützten die Bürgermeister einiger Städte, auch einer aus der PDS, mit viel Medienrummel die Streikbrecher. Die Propagandamasche: Die Gewerkschaft wolle den Ostdeutschen ihren einzigen überzeugenden Standortvorteil neh­men: für weniger Geld mehr arbeiten zu dürfen - wie heimtückisch! Die Frage, ob nicht nach eben dieser Logik der "Standort Ostdeutschland" durch die Wanderung des Kapitals weiter nach Osten hinfällig wird, wurde dabei verdrängt (inzwischen werden, wie man hört, streikende Arbeiter in Tschechien mit dem Abzug des Kapitals in Richtung Ukraine bedroht).

Unsicherheit und Existenzangst machen viele Menschen geneigt, auch den größten Unfug als einen Strohhalm zu akzeptieren, an den man sich klammern muß, um nicht unterzugehen. Solidarische Wertvorstellungen sind durch den langjährigen Genuß von Bild und anderen bunten Blättern sowie die Gehirnwäsche per Fernsehen, aber auch durch die in den Alltagsvollzügen materialisierte Ideologie verwirrt und zersetzt.

Die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, sollen demontiert werden. Stellen sie doch die einzige gesellschaftliche Kraft dar, die noch in der Lage ist, Menschen gegen die Zumutungen der neoliberalen Gesellschaftszerstörung zu mobilisieren und Widerstand zu bündeln.

Was bliebe, wäre eine neue Volksgemeinschaft mit einer neuen deutschen Arbeitsfront, in der die noch zum Ausgebeutetwerden Zugelassenen für den Profit ihrer Herren kämpfen. Der Betriebsführer würde dann seine Betriebsgemeinschaft führen, ohne daß ihm eine Gewerkschaft hineinredet und durch unangemessene Forderungen "Klas­senzwietracht" schürt. Gemeinnutz ginge, wie schon einmal, vor Eigennutz - wobei als Gemeinnutz das Interesse der Herrschenden gälte, das Interesse der Beherrschten aber als schnöder Eigennutz abqualifiziert würde. Böte dies nicht eine hervorragende Voraussetzung für die Formierung des "Volkes" zur kämpfenden Truppe im Weltordnungskrieg? Die Verfeinerung der technischen und administrativ-juridischen Mittel zur Überwachung, Kontrolle und Repression würde es erlauben, dieser Form der totalen Herrschaft ein gefälligeres Aussehen zu verleihen als dem Faschismus von einst.

Wenn es dahin nicht kommen soll, ist Widerstand in größerer Breite nötig als bisher erkennbar. Angezeigt ist dann allerdings auch eine Selbstprüfung der Gewerkschaften. Die Zeiten sind vorbei, in denen auf den Wohlstandsinseln der westlichen Industriestaaten Gewerkschaften sich damit legitimieren konnten, daß sie für ihre Klientel jeweils ein größeres (wenn auch verhältnismäßig kleines) Stück aus dem ständig wachsenden Wohlstandskuchen erstreiten konnten. Scheinbar unendliches quantitatives Wachstum, Massenproduktion, Massenkonsum plus Sozialstaat bewirkten gesellschaftliche Integration und Befriedung. Die Fragen nach der Verfügung über die Produktionsmittel, nach dem Eigentum und der Macht waren vorübergehend ruhiggestellt. Diese Zeit der Gemütlichkeit neigt sich ihrem Ende zu. Grundlegendere Veränderungen werden nötig. Dem Kampf um Arbeitszeitverkürzung kommt dabei eine wichtige Funktion zu.

Wer aber soll verhindern, daß die herrschende Klasse den Ausweg aus der Krise wieder in einem autoritären Herrschaftssystem und in neuen Kriegen sucht? Das können nur die, die dafür mit ihrer Haut zu zahlen hätten. Wie aber, wenn sie dafür in den Gewerkschaften keinen organisatorischen Halt mehr finden?



 

Lenin oder Kautsky?

von Kurt Gossweiler

Am 5. und 6. Juli 2003 fand eine von der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal veranstaltete Konferenz statt zum Thema: Imperialistische Kriegspolitik und Staats- und Demokratiefrage heute. (S. "junge Welt" vom 8. 7. 03) Der Nachmittag des ersten Tages war Referaten gewidmet, die sich mit der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus beschäftigten: Prof. Dr. Gretchen Binus sprach zum Thema "Mono­polstrategien heute", Leo Mayer vom isw München zum Thema "Globalisierung und Krieg", Patrick Köbele, Essen, zu "Rolle und Entwicklung der EU im internationalen Imperialismus" und Hans-Peter Brenner, Bonn, zum Thema: "Hegemoni­almacht USA - aus der Sicht der Leninschen Analyse der unterschiedlichen Imperialismusvarianten". Die Diskussion zu diesen Referaten begann noch am Samstagnachmittag und wurde am Sonntagvormittag fortgesetzt. Mit dem Referat von Leo Mayer beschäftigte sich Kurt Gossweiler in einem Diskussionsbeitrag, den wir im folgenden - ohne redaktionelle Eingriffe in die mündliche Äußerung - wiedergeben.


 Gestern hat Leo seine bekannte und sehr umstrittene Theorie des globalen Kapitalismus, in acht Thesen gefasst, vorgetragen. Ich will in meinem Diskussionsbeitrag nur zu einem Punkt Stellung nehmen, bei dem der Widerspruch seiner Theorie zur imperialistischen Realität besonders offenkundig ist, nämlich zur Frage des Wesens der Differenzen zwischen der EU und den USA. Dazu wurden gestern zwei gegensätzliche Auffassungen vorgetragen.

Genossin Binus sprach in ihrem Referat davon, es handele sich bei diesen Differenzen um die Konkurrenz und die Rivalität zwischen dem USA-Imperialismus auf der einen, dem Imperialismus von "Kern-Europa" mit Deutschland und Frankreich an der Spitze, auf der anderen Seite. So sahen auch Patrick Köbele und Hans-Peter Brenner die Differenzen zwischen den USA und der EU. Dem widersprach Leo Mayer in seinen Thesen ganz entschieden.

In seiner These 3 führte er aus: Das Ende der Systemkonkurrenz ist auch das Ende der nationalen Imperialismen.

Aber hat sich vor unseren Augen nicht das genaue Gegenteil abgespielt? Haben wir etwa nicht erlebt, dass mit dem Verschwinden des gemeinsamen Feindes Sowjetunion und Warschauer Vertrag die bis dahin weitgehend gedeckelten innerimperialistischen Gegensätze nun viel offener in Erscheinung traten und - nach einer kurzen Phase "uneinge­schränkter Solidarität" mit den USA nach dem Schock des 11. September - im Vorfeld und während der USA-Intervention gegen den Irak in einer bis dahin nie für möglich gehaltenen Schärfe ausgetragen wurden?

Auf welche Tatsachen stützt Leo Mayer seine Behauptung vom Ende der nationalen Imperialismen? Er führt dafür überhaupt keine Tatsachen, sondern nur weitere Behauptungen ins Feld, wie etwa die folgende, ebenfalls aus These 3: nachdem er die schon seit Marx' Zeiten gültige und seitdem zur Binsen­weisheit gewordene Feststellung trifft: "Die Entwicklung der Produktivkräfte sprengt nationale Grenzen" folgt die als Schlußfolgerung daraus dargebotene Behauptung: Wir haben es nicht mehr mit Konkurrenz-Verhält­nissen, sondern mit internationaler Arbeitsteilung zu tun . Und:"Die EU und die USA sind ein einziges Prodduktionssystem" (These 4)

Aber: haben die zugespitzten Auseinandersetzungen Bush's mit den "Alten Europäern" vor, während und nach dem Irak-Krieg nicht mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit offenbart, dass es dabei auch um einen scharfen Konkurrenzkampf der imperialistischen Führungsmächte um die Beherrschung des irakischen Öls geht?

Nein, sagt Leo Mayer in seinen Thesen. Es handele sich dabei nicht um Rivalitäten von selbständigen Imperialismen, sondern lediglich um taktische Differenzen. Im "Krieg gegen den Terror" seien die USA eine Art "Weltdienstleister" für die transatlantischen Konzerne. Nur die USA seien in der Lage, die kapitalistische Ordnung zu garantieren. "Im Irakkonflikt sicherten die USA den Ölfluß für den gesamten Metropolkapitalismus." (These 7)

Wie denn das, Leo? Es kann dir doch nicht entgangen sein, was durch alle Medien ging, dass nämlich "Frankreich, Russland und Chi­na lukrative Verträge" mit Sadam Hussein abgeschlossen haben, in denen für sie das Recht zur Ausbeutung irakischer Ölquellen verbrieft wurde, sobald die UNO-Sanktionen aufgehoben sein würden. (ND v. 20. 9. 02), dass aber die Bush-Administration erklärt hat, nach dem Sturz Husseins seien diese Verträge hinfällig. Diese offensichtliche Ver­drängung der Franzosen und Russen vom ira­kischen Ölfluss werden diese wohl kaum bereit sein, als "Sicherung des Ölflusses durch die Amerikaner für den gesamten Metropol-Kapitalismus" anzuerkennen. Und welche Tatsachen führt Leo Mayer an, die uns veranlassen könnten, dieser seiner These zuzustimmen? Keine. Es sei denn, man sei bereit, seine Feststellung in These 8 als unumstößliche Tatsache anzusehen.

In dieser These 8 weist er die Ansicht als falsch zurück, die Europäische Union wolle sich von den USA unabhängig machen. Eine solche Ansicht sei einfach deshalb falsch, weil das gar nicht ginge, schon allein wegen der militärischen Überlegenheit der USA. Diese Überlegenheit aufzuholen, sei unfinan­zierbar, die EU habe dafür keine Mittel. Die USA seien so stark, dass jeder Versuch aussichtslos sei, sich von ihnen unabhängig zu machen.

Einer solchen Feststellung könnte man zustimmen, wenn wir nicht aus These 3 wüßten, daß Leo Mayer hier nicht einfach die selbstverständliche ökonomische und politische Interdependenz aller Staaten als nicht aufhebbar erklären will, sondern mit dieser Aussage zum Ausdruck bringt, dass nach seiner Ansicht ein Versuch irgendeiner anderen Mächtegruppierung, wie etwa der EU, eine mit den USA gleichberechtigte Position einzunehmen, im Ernst gar nicht mehr unternommen werden könne - eben weil es keinen nationalen Imperialismus mehr gäbe und das frühere Konkurrenzverhältnis zwischen EU und USA sich infolge der erdrückenden Überlegenheit der USA in ein Verhältnis der Arbeitsteilung gewandelt habe.

Diese Sicht Leo Mayers überrascht mich nicht nur wegen der Kühnheit, mit der sie Behauptungen ohne oder sogar gegen offenkundige Tatsachen aufstellt, sondern ebenso sehr durch ihren sehr einseitig auf die Ökonomie und das Militärische und auf das Verhältnis EU-USA gerichteten Blick, wo man doch eine globale Sichtweise erwarten müßte.

Bei seinem Streben nach Unterwerfung des Rests der Welt unter sein Kommando hat es der USA-Imperialismus ja nicht nur mit der Europa-Union zu tun. Und die EU steht mit ihrem Widerstand gegen die Unterwerfung unter das Diktat der USA keinesfalls allein da. Wer nach Weltherrschaft strebt, wird sich die ganze Welt und am Ende auch noch das eigene Volk zum Feinde machen.

Das Bild vom allmächtigen USA-Imperia­lismus, dem keiner zu widerstehen vermag, ist nicht einmal eine Momentaufnahme des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses, sondern eine Aufnahme aus einer falschen Perspektive und ohne jede Einsicht, dass wir es mit einem Prozess zu tun haben, in dem immer noch das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung und der daraus folgenden unvermeidlichen Veränderung des bestehenden Kräfteverhältnisses wirksam ist.

Als ich gestern das Referat von Leo Mayer hörte, drängte sich mir unwillkürlich die Frage auf: was würde wohl mein Freund Rolf Vellay, der so viele Konferenzen hier mit seinen ebenso streitbaren wie klugen Diskussionsbeiträgen bereichert hat, zu unserem Thema beisteuern? Ich bin mir ziemlich sicher, er hätte in Erwartung dessen, was uns Leo vortragen wird, vorsorglich Stalins Arbeit "Ökonomische Probleme des Sozialismus und der UdSSR" mitgebracht und daraus folgende Passage vorgelesen:

"Manche Genossen behaupten, daß infolge der Entwicklung der neuen internationalen Be­dingungen nach dem zweiten Weltkrieg Krie­ge zwischen den kapitalistischen Ländern nicht mehr unvermeidlich seien. Sie meinen, daß die Gegensätze zwischen den Staaten des Sozialismus und dem Lager des Kapitalismus stärker seien als die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Ländern, daß die Vereinigten Staaten von Amerika sich die anderen kapitalistischen Länder so weit untergeordnet hätten, um ihnen nicht zu gestatten, untereinander Krieg zu führen und sich gegenseitig zu schwächen, daß die tonangebenden Leute des Kapitalismus aus der Erfahrung zweier Weltkriege, die der ganzen kapitalistischen Welt schweren Schaden zugefügt haben, genügend gelernt hätten, um sich nicht noch einmal zu erlauben, die kapitalistischen Länder in einen Krieg gegeneinander hineinzuziehen - daß infolge all dessen die Kriege zwischen den kapitalistischen Ländern nicht mehr unvermeidlich seien.

Diese Genossen irren sich. Sie sehen die an der Oberfläche schimmernden äußeren Erscheinungen, aber sie sehen nicht die in der Tiefe wirkenden Kräfte, die, obwohl sie vor­läufig unmerkbar wirken, dennoch den Lauf der Ereignisse bestimmen werden.

Nach außen hin scheint alles 'wohlgeordnet' zu sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben Westeuropa, Japan und andere kapitalistische Länder auf Ration gesetzt; (West)Deutschland, England, Frankreich, Italien, Japan, die in die Klauen der USA geraten sind, führen gehorsam die Befehle der USA aus. Es wäre aber falsch, anzunehmen, dieser 'wohlgeordnete Zustand' könne 'in alle Ewigkeit' erhalten bleiben, diese Länder wür­den die Herrschaft und das Joch der Vereinigten Staaten von Amerika endlos dulden, sie würden nicht versuchen, aus der amerikanischen Knechtschaft auszubrechen und den Weg einer selbständigen Entwicklung zu beschreiten. ... Daraus folgt aber, daß die Unvermeidlichkeit von Kriegen zwischen den kapitalistischen Ländern bestehen bleibt." [11]

Rolf Vellay ist nicht mehr unter uns, aber die Erinnerung an ihn und seinen unermüdlichen Kampf für die Weitergabe des unverfälschten Erbes der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus sollte in den Veranstaltungen der Marx-Engels-Stiftung einen festen Platz haben. Sein Kommentar zu dem vorgelesenen Zitat wäre sicher die Frage gewesen, ob diese Erklärung Stalins nicht eine viel schlüssigere Erklärung für die gegenwärtigen Differenzen zwischen den USA und dem "alten Europa" gibt als Leos Theorie des "Endes der nationalen Imperialismen" und der Wandlung des früheren Konkurrenz-Verhältnisses in eine bloße Arbeitsteilung.

Diese Theorie ist übrigens - wie sicher nicht ganz unbekannt - keineswegs neu. Es ist gerade zehn Jahre her, dass ich auf dem Hamburger Kongress "Was tun?" der Gremliza-Zeitschrift "Konkret" das Vergnügen hatte, zusammen mit Georg Fülberth gegen Robert Kurz' Verkündung des Endes des Kampfes nationaler Imperialismen gegeneinander zu argumentieren.

Nach Robert Kurz hatte sich schon damals, 1993, der Kapitalismus zu einem globalen Gesamtsystem entwickelt, wodurch das Kapital zu einem "unmittelbaren Weltkapital" geworden sei. Wir haben damals daran erinnert, dass auch Kurz nicht den Anspruch erheben kann, der Erfinder dieser Theorie zu sein, sondern dass er - wie in unseren Tagen auch Leo Mayer - nur als Wirklichkeit in der Gegenwart ausgibt, was schon im ersten Weltkrieg Karl Kautsky als Möglichkeit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus prognostiziert hatte - die Phase des "Ultraimpe­rialismus". Es lohnt sich, noch einmal zu hören und nachzulesen, wie Lenin diese Theorie des "Ultraimperialismus" im Kapitel VII seines Standard-Werkes über den Imperialismus beurteilte und widerlegte:

"Vom rein ökonomischen Standpunkt, schreibt Kautsky, sei es nicht ausgeschlossen, dass der Kapitalismus noch eine neue Phase durchmachen werde: die Übertragung der Politik der Kartelle auf die Außenpolitik, die Phase des Ultraimperialismus, d.h. des Über­imperialismus, der Vereinigung der Imperialisten der ganzen Welt, nicht aber ihres Kampfes, die Phase der Aufhebung der Kriege unter dem Kapitalismus, die Phase der 'gemeinsamen Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital'. ...

Ist ein 'Ultraimperialismus' vom 'rein ökonomischen Standpunkt' möglich oder ist das ein Ultra-Unsinn?

Versteht man unter dem rein ökonomischen Standpunkt eine 'reine' Abstraktion, so läuft alles, was sich da sagen lässt, auf die These hinaus: Die Entwicklung bewegt sich in der Richtung der Monopole, also eines Weltmonopols, eines Welttrusts. Das ist unzweifwelhaft, aber ebenso nichtssagend wie der Hinweis, daß 'die Entwicklung' sich in der Richtung der Herstellung der Nahrungsmittel im Laboratorium 'bewegt'. In diesem Sinne ist die 'Theorie' des Ultraimperialismus ebensolcher Unsinn, wie es eine Theorie der Ultra-Landwirtschaft wäre.

Spricht man aber von den 'rein ökonomischen' Bedingungen der Epoche des Finanzkapitals als von einer konkret-historischen Epoche, die in den Anfang des 20. Jahrhunderts fällt, so erhalten wir die beste Antwort auf die toten Abstraktionen des 'Ultraimiperialismus', ... wenn wir ihnen die konkrete ökonomische Wirklichkeit der modernen Welt­wirtschaft gegenüberstellen.

Kautskys leeres Gerede von einem Ultraimperialismus nährt v. a. den grundfalschen Ge­danken, der Wasser auf die Mühlen der Apo­logeten des Imperialismus leitet, daß die Herrschaft des Finanzkapitals die Ungleichmäßigkeiten und die Widersprüche innerhalb der Weltwirtschaft abschwäche, während sie in Wirklichkeit diese verstärkt."

An dieser Stelle fügte Lenin eine Tabelle ein, um die tatsächlich vorhandenen Ungleichmäßigkeiten und Widersprüche zu dokumentieren, und schloß daran folgende Bemerkungen an, die auch in der gegenwärtigen Situation - mutatis mutandis - noch volle Gültigkeit besitzen:

"Man stelle dieser Wirklichkeit - mit der ungeheuren Mannigfaltigkeit ökonomischer und politischer Bedingungen, mit der äußersten Ungleichmäßigkeit im Tempo des Wachstums der verschiedenen Länder usw., mit dem wahnwitzigen Kampf zwischen den imperialistischen Staaten - Kautskys dummes Märchen von einem 'friedlichen' Ultraimperialismus gegenüber. Ist das nicht der reaktionäre Versuch eines erschrockenen Kleinbürger, sich über die grausame Wirklichkeit hinwegzusetzen?"

Ich denke nicht, dass diese Einschätzung Kautskys durch Lenin auch auf jene unserer Modernisierer zutrifft, die heutzutage meinen, was Kautsky damals in die ferne Zukunft verlegte, sei heute bereits Wirklichkeit. Ihr Sehfehler ist offenbar nicht durch ein Erschrecken über die "grausame Wirklichkeit" blutiger imperialistischer Kriege verursacht. Eher vom Gegenteil: gerade davon, dass gegenwärtig die Kämpfe der imperialistischen Konkurrenten um die Neuaufteilung der Welt nach dem Verschwinden des Sozialismus auf dem europäischen Kontinent und dem sowjetischen Teil Asiens noch so "friedlich" verlaufen, dass sich bestätigt fühlt, wer da meint, für die Welt von heute mit ihren gewaltigen Veränderungen gegenüber der Zeit, da Lenin seinen "Imperialismus" schrieb, könne unmöglich eine Theorie der Unvermeidlichkeit kriegerischer Auseinandersetzun­gen zwischen den imperialistischen Groß­mächten noch Gültigkeit besitzen, die vor fast hundert Jahren, am Beginn des imperialistischen Zeitalters, entwickelt wurde. Diese unsere "Modernisierer" finden, die heutige Welt sei mit unserer von Marx bis Lenin geschaffenen Begrifflichkeit nicht mehr "ad­äquat" zu erfassen. Neue Begriffe, wie etwa "Globalisierung", "Arbeitsteilung anstelle von Konkurrenz" müssten her, um das Wesen der neuen Erscheinungen richtig wiederzugeben.

Unsere "Modernisierer" haben allerdings insofern Pech, als gerade in letzter Zeit in Sprachrohren der "transnationalen Monopole" wie der FAZ zu lesen ist, wie modern das "Kommunistische Manifest" doch sei - sei darin doch schon alles das beschrieben und vorausgesagt, was heute als "eine völlig neue Erscheinung" empfunden und mit dem neuen Begriff "Globalisierung" bezeichnet würde.

Trifft das nicht genau so auf die Argumentation Lenins gegen Kautsky zu?

"Die internationalen Kartelle, die Kautsky als Keime des Ultraimperialismus erscheinen, ... bieten sie uns nicht ein Beispiel der Aufteilung und Neuaufteilung der Welt, des Übergangs von friedlicher Aufteilung zu unfriedlicher und umgekehrt? Das Finanzkapital Amerikas und anderer Länder, das bisher unter Deutschlands Mitbeteiligung ... die ganze Welt friedlich aufteilte - nimmt es jetzt nicht auf Grund neuer Kräfteverhältnisse, die auf ganz unfriedlichem Wege verändert wer
den, eine Neuaufteilung der Welt vor?"

In der Tat, treffen diese Ausführungen Lenins zu Kautskys Theorie vom "Ultraimperi­alismus" nicht ziemlich das Wesen dessen, was sich seit dem Untergang der Sowjetunion und der sozialistischen Staaten Europas vor unserer Augen in der Welt und zwischen den imperialistischen Hauptländern abspielt?

Die Genossin Binus und die Genossen Köbele und Brenner haben recht: Der Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit des Anfangs des 21. Jahrhunderts ist immer noch die zu Anfang des 20. Jahrhunderts von Lenin ausgearbeitete Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in sein höchstes und letztes Stadium, den Imperialismus. Dagegen ist die Neuauflage der Kautsky-Theorie vom Ultraimperialismus, in welcher Gestalt und mit welchem Namen verbunden auch immer, auch heute noch kaum weniger wirklichkeitsfremd, als es ihr Original war.



 

Erwiderung auf eine Rückfrage - Ein ganz falscher Halbsatz

(Betr,: Weißenseer Blätter, Heft 1/2003, S.14 f.)

Von Wolfgang Clausner (S. 3-8)


Lieber Herr Müller,

ungenügende Sorgfalt beim Formulieren eines Textes bringt dem Autor Widerspruch durch sorgfältige Leser ein. So wie mir wegen jenes Halbsatzes, auf den Sie mit einer Rückfrage in Heft 1 / 2003 der „Weißenseer Blätter“ reagierten.

Um gleich zur Sache zu kommen: Die Grün-de, mit denen Sie gegen eine Aussage polemisieren, die den Gedanken nahelegen könn­te, daß Gewalt als Mittel der Politik grundsätzlich zu verwerfen sei, sind so stichhaltig, daß ich mich Ihnen nur anschließen und mit gebotener Selbstkritik einräumen kann: Jener halbe Satz in meinem „Rot-Fuchs“-Kom­mentar ist zur Gänze falsch! Daß dies durch mich nicht willentlich geschah – um auf Ihre
diesbezügliche Frage einzugehen – nehmen Sie mir gewiß ab. Daß mir diese Fehlleistung unterlief, hat mit einem „handwerklichen“ Problem zu tun: Meist damit konfrontiert, ein gewisses Zeilenlimit nicht überschreiten zu dürfen, ist es journalistische Praxis, Gedanken und Sachverhalte möglichst komprimiert zu formulieren, wozu dann inhaltlich verkürzte Aussage als gängiges und durchaus auch brauchbares Mittel genutzt wird. Wo es allerdings, wie in diesem Falle, überzogen wird, kann das zu inakzeptablem Ergebnis führen. Dann liegt in der Kürze eben nicht mehr die sprichwörtliche Würze.

Soviel, um das Zustandekommen dieses falschen Halbsatzes zu erklären, ohne es damit rechtfertigen zu wollen.

*

Ich räume ein, daß meine stark verkürzte Wiedergabe dem Inhalt des antimilitaristi­schen Grundsatzbeschlusses des Münsteraner PDS-Parteitages vom Jahre 2000 nicht gerecht wird. Um das hier zu korrigieren: Unter der Überschrift „Nein zu UN-Militäreinsät­zen - Internationale Krisen und Konflikte friedlich lösen“ beschlossen die Delegierten damals, „aus der herkömmlichen Logik des Denkens und Handelns in militärischen Abschreckungs-, Bedrohungs- und Kriegsführungskategorien auszubrechen und militärische Gewaltanwendung als Mittel der internationalen Politik strikt abzulehnen.“ (Hervorhebungen durch mich). Und sie gingen dabei konsequenterweise bis zu der – vom damaligen Führungszirkel der PDS als nahezu katastrophal bewerteten – Festlegung: „Die PDS lehnt aus allen diesen Gründen UN-mandatierte Militärinterventionen unter Berufung auf Kapitel VII der UN-Charta ab...“

Wie wohlbegründet, ja notwendig eine solche Positionierung war, hat die Praxis inzwi­schen hinlänglich deutlich gemacht. Zuletzt am Exempel Irak, wo sich die USA und die von ihr abhängige Staatengruppierung über UN-Charta und Völkerrecht hinwegsetzten, unter dreist erlogenem Vorwand die Militärintervention gegen das UNO-Mitglied Irak durchführten, den Sicherheitsrat als kraftlose Schwatzbude vorführten - ohne bei alledem wenigstens durch offiziellen Protest seitens der Vollversammlung moralisch an den Pran­ger gestellt zu werden. Mehr noch: Vom Sicherheitsrat wurden Immunitätsfristen eingeräumt und verlängert, mit denen USA-Poli­tiker und -Militärs von Strafverfolgung bei von ihnen begangenen Kriegsverbrechen frei­gestellt werden. Ein skandalöser Vorgang, durch den die weitreichenden  Kompetenzen dieses UN-Organs bis zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen - weil die USA als größter Beitragszahler für das UNO-Budget und wichtigster Handelpartner der meisten Staaten das erpresserisch durchsetzen.

Indem der Münsteraner Antikriegsbeschluß solchen Praktiken kategorisch die Zustim­mung verweigert, legt er die PDS jedoch keineswegs darauf fest, „Gewalt als Mittel der Politik“ grundsätzlich und pauschal zu ächten Eine solche Aussage würde ja auch ein Höchstmaß an Geschichtsignoranz voraussetzen. Gewalt per se als eine derart unmoralische Größe aufzufassen, daß Politik sich ihrer zu enthalten habe, käme Fundamentalpazifismus gleich. Doch den führt der Verlauf der Menschheitsgeschichte gründlich ad absurdum. Wobei Androhung und Anwendung von Gewalt als politisches Mittel natürlich nicht bloß als Problem in den zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern nicht minder innenpolitisch relevant ist.

Aus gutem Grund haben Sie, lieber Herr Müller, in Ihrer Rückfrage auf die „marxi­stische Binsenweisheit“ verwiesen, daß „alle bisherige (geschriebene) Geschichte“ als „Geschichte von Klassenkämpfen“ zu verstehen ist – und auch so nur realistisch bewertet werden kann. Und für den Verlauf dieser Geschichte spielen eben „Androhung und Anwendung von Gewalt“ eine bedeutende, nicht selten sogar dominierende Rolle. Dies allerdings nicht bloß in einer Richtung, entweder durchweg als Instrument des Bösen oder ausschließlich als Beförderer des Guten. Die jeweils Handelnden –  sowohl die Gewalt Ausübenden wie jene, die ihre Opfer wurden – unterschieden sich grundsätzlich auch darin, ob sie den Einsatz des „poli­tischen Mittels“ Gewalt als ( ihren Interessen) nützlich und damit auch als moralisch gerechtfertigt definierten, oder aber sich als Leidtragende ungerechter, „böser“ Gewalt empfinden mußten. Wobei der Begriff Leidtragende nicht einmal annähernd jenes Ausmaß menschlicher Tragödien auszudrücken vermag, die damit oft verbunden waren: Ob religiöser Fanatismus in Gestalt der Inquisition oder die Ausrottung ganzer Völker durch Kolonisatoren, ob die Erniedrigung von Menschen zu Sklaven bis hin zu jener unfaßbaren Perversion von Barbarei, wie sie die von den Hitlerfaschisten industriell betriebene Menschenver­nichtung in Auschwitz darstellte – den Weg der Menschheit durch die Zeit säumen viele solcher schlimmen Zeichen. Und ihretwegen ist verständlicherweise die Neigung groß, Gewalt generell als ein Synonym für Abscheulichkeiten zu aufzufassen.

*

Gewalt spielte in der Geschichte jedoch ebenso oft eine produktive, den gesellschaft­lichen Fortschritt befördernde oder über­haupt erst ermöglichende Rolle. Allerdings kam sie dabei in aller Regel nicht im „schö­nen“ Gewand daher, und ihr Werk verrich­tete sie nicht mit „sanfter“, sondern meist mit harter Hand.

Heutzutage operiert der sogenannte Zeitgeist allerdings vorzugsweise damit, als Prototy­pen solcherart „häßlicher“ Gewalt revolutionäre Umwälzungen vorzuführen, die unter sozialistischem Vorzeichen stattfanden: an erster Stelle die Oktoberrevolution in Rußland 1917 sowie  ihr folgende Prozesse, die zur Herausbildung einer Gruppierung sozialistischer Staaten führten.

Die sich mit dem Popanz „roter Gewaltherrschaft“ ein ihrem eigenen Klasseninteresse dienstbares antisozialistisches Schreckgespenst zugelegt haben, das brave Bürger von revolutionären Gelüsten fern halten soll, ver­meiden es tunlichst, jene geschichtlichen Ab­läufe in Erinnerung zu rufen, unter denen bürgerliche Revolutionen vonstatten gingen. Der Sturz des Feudalabsolutismus und der Aufstieg der Bourgoisie zur neuen herrschen­den Klasse, also der qualitative Sprung in den Kapitalismus, vollzog sich ja nicht mittels Debattierrunden und in Abstimmungsritualen. Namen wie die der führenden Jakobiner Robespierre und Marat in der Französischen Revolution oder von Oliver Cromwell in England stehen eben auch für unnachsichtige Härte beim Vorgehen gegen die feudalen Gegner, ja sogar gegen Kompromißler im Bürgertum. Ohne revolutionäre Gewalt, selbst wenn sich diese dem Betrachter mit historischem Abstand als abstoßend darbieten mag, hätte es keinen Sieg der Bourgoisie gegeben.

So schmerzhaft die Wehen bei der Geburt der neuen, der kapitalistischen Gesellschafts­formation auch gewesen sind – mit ihr erklomm die menschliche Gesellschaft objektiv eine höhere Entwicklungsstufe. Und dieses historische Verdienst kommt ihrem „gewalt­samen“ Geburtshelfer zu: „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt“.1

*

Seitdem veränderten zahlreiche Wandlungen und Umbrüche immer wieder die politische Weltkarte. Obwohl es bei ihnen überwiegend nicht darum ging, sich der kapitalistischen Zwangsjacke zu entledigen und den historischen Schritt in den Sozialismus zu wagen,  bewirkten sie dennoch – in unterschiedlichem Maße – gesellschaftlichen Fortschritt, wurde durch sie ein Stück „menschliche Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft“ vollbracht. Gewalt war dabei stets Hebamme. Exemplarisch dafür der Sturz des Kolonialsystems, wie er sich im zu Ende gegangenen Jahrhundert vollzog.

Es gab zugleich durchaus Versuche, gesellschaftlichen Wandel auf „demokratische“, gewaltfreie Weise zuwege zu bringen. Als kürzlich gekrönte wie ungekrönte Promi­nenz Nelson Mandela zu seinem 85. Ge­burtstag die Aufwartung machte, erinnerte ich mich, wie Jahrzehnte zuvor die „höheren Kreisen“ der westlichen Welt diesen Volks­tribun als Gewalttäter und Terrorist schmäh­ten, der zu Recht auf Robben Island ein­gekerkert sei – und das über 26 Jahre blieb! In der Tat hatte Mandela als einer der ANC-Führer beim Kampf gegen die Apartheid zum Mittel der Gewalt gegriffen. Das jedoch erst, als sich jahrelange Bemühungen des ANC als aussichtslos erwiesen, auf dem Verhandlungswege, also gewaltfrei, das Apartheidregime zu bewegen, der nichtweißen Bevölkerungsmehrheit Südafrikas nicht länger ihre Menschenwürde zu verweigern. Mandela schildert in seiner Autobiografie diesen Schritt von friedlicher zu gewalttätiger politischer Aktion, den Übergang von Petitionen und Willensbekundungen zum Aufbau des Umkhonto We Sizwe als bewaffnetem Arm des ANC und zu  „Gewaltaktionen...: Sabotage, Guerillakrieg, Terrorismus und offener Revolution.“ 2

Gewaltsam wurde das Apartheidregime bezwungen, fielen die Rassenschranken, stieg der Gefangene von Robben Island auf zum ersten Präsidenten des neuen Südafrika. Und den einst Verfemten, der nun staatliche Macht repräsentierte, akzeptierten und hofierten fortan auch Inhaber von Macht, die ihn vordem kriminalisiert hatten. Er wurde mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

In Chile allerdings, wo unter der Salvador-Allende-Regierung der Versuch unternom­men wurde, die Gesellschaft nach den Regeln parlamentarischer Demokratie zu einer Art  „demokratischem Sozialismus“ umzugestalten, setzte konterrevolutionäre Gewalt dem rasch ein Ende.

*

Auch wenn Konservative aller Schattierungen das gern glauben machen möchten: Die Endstufe menschlicher Geschichte ist mit dem kapitalistischen Stadium keineswegs erreicht. Geschichte bleibt in Bewegung, solange Menschen sie machen, und das tun sie, solange Menschheit existiert. Sie werden – und können – dabei nicht auf politische Gewalt als wichtiges Instrument verzichten.

Am allerwenigsten denken an Gewaltverzicht jene, die jeweils im Besitz der Macht - der ökonomischen und der politischen - sind.

So ist es unumstößliches Grundprinzip bürgerlicher Demokratien, daß allein dem Staat das Gewaltmonopol zukommt. Dem Volk, laut Verfassung zwar der „Souverän“, ist es nicht nur untersagt, seinen Interessen auch mittels Androhung oder, notfalls, sogar Anwendung von Gewalt Geltung zu verschaffen. Indem ihm das Recht auf Volksbegehren und Volksentscheide in den meisten „Demokratien“ entweder völlig versagt bleibt oder aber auf so wenige Bereiche eingeschränkt und mit derart hohen Vorbedingungen verknüpft wird, daß ihr Stattfinden faktisch unmöglich gemacht wird, steht der Bevölkerungsmehrheit auch kein „gewaltfreies Korrektiv“ gegenüber dem staatlichen Gewaltmonopol zur Verfügung. Der auf Gewaltverzicht verpflichteten Mehrheit steht die hochgerüstete Staatsgewalt gegenüber, die dem Schutz der Interessen einer herrschenden Minderheit dient. Dieses Prinzip, weil in Rechtsform gegossen, gilt als sakro-sankt. Die Normen für „Recht und Ordnung und ‚inneren Frieden‘“ und die Regeln, nach denen sie gewährleistet werden sollen, sind auf die Interessen der herrschenden Klasse zugeschnitten. Es ist, wie Sie zutreffend betonen, „nicht zuletzt eine Machtfrage, ob diese Normen gültig bleiben oder verändert werden können zum wohlverstandenen Woh­le aller“.

Diese letzte, Ihrer „Rückfrage“ entnommene Formulierung, hat mich allerdings stutzen lassen: Zum Wohle wirklich aller?? Ist das denn machbar? Da Sie sich hier ausdrück­lich auf die Veränderung der Kräfteverhält­nisse beziehen, komme ich nicht um den Einwand herum, daß eine solche Kräfte­verschiebung in einer klassengespaltenen Ge­sellschaft wie der unsrigen eben nicht das „Wohl aller“ bedienen kann. Wenn, um bildhaft den Titel einer DDR-Fernsehserie zu benutzen, Krause Kraft zuwachsen soll, muß Krupp geschwächt werden.

Oder ?

Hier nun schließen sich meinem Einwand auch gewisse Bedenken an, die - aus meiner Sicht - aus der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 resultieren. Bei allem Respekt vor dem Mut, mit dem sich damals aufrechte Christen der Bekennende Kirche widerständig gegen das Hitlerregime engagierten, halte ich die von Ihnen zitierte Passage aus jener Erklärung für recht problematisch. Natürlich wäre es Unfug, von Wortführern einer Kirche Aussagen zu erwarten, mit denen der Kompliziertheit einer Klassengesellschaft ent­sprochen wird, wie sie seinerzeit bestand und auch heute noch existiert. Der Anspruch von Religion, „für alle Kinder Gottes gleichermaßen“ da zu sein, bedarf zu seiner Vermittlung wohl auch einer gewissen – vielleicht könnte man sagen: gleichmacherischen – sprachlichen Harmonisierung. Aber ergibt sich nicht die Gefahr „selbstzwecklichen“ Mißbrauchs, wenn - wie mit der Barmer Erklärung - aus der Bibel entnommen wird, „daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“ (Hervorhebungen durch mich). Diese Aussage enthält so viele Möglichkeiten der Interpretation, daß sich ihrer auch Kräfte bedienen können, die – aus Ihrer und meiner Sicht – als Exponenten und Exekutoren böser Gewalt zu gelten haben. Denen ist es natürlich hochwillkommen, wenn ihnen als den Inhabern staatlicher Macht attestiert wird, daß der Staat (in persona also sie) „nach göttlicher Anordnung“ handelt, wenn er Staatsgewalt ausübt. Es wäre utopisch, davon auszugehen, daß sie sich zügeln lassen durch „Auflagen“, dabei „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens ... für Recht und Frieden zu sorgen.“ Denn Einsicht wie Vermögen der maßgeblichen politischen Akteure werden ja, wie Erfahrung lehrt, nicht von deren intellektuellen Fähigkeiten, geschweige denn von allgemein-menschlichen Moralprinzipien bestimmt, sondern von handfesten Klasseninteressen. Und diese Interessen sind allein ausschlaggebend dafür, was dann jeweils als Recht gilt oder notwendig zur Herstellung von innerem wie äußerem Frieden. 

Vergangenheit wie Gegenwart liefern reichhaltig Anschauungsmaterial dafür, daß sich politisch motivierter Gewaltmißbrauch um so extensiver und gefährlicher auszubreiten ver­mag, je mehr es gelingt, ihm den Anschein quasi religiös gerechtfertigten Handelns zu verschaffen. Das verhilft ihm dann zu jener massenhaften Akzeptanz, derer es bedarf, damit „böse Gewalt“, bereichert durch religiösem Fanatismus, sich auch über die letzten Hemmschwellen hinwegsetzen kann.

„Gott mit uns“ stand auf den Koppelschlössern, als die Hitlerwehrmacht die Völker Europas unter ihre Stiefel nahm. Das Anheizen religiöser Rivalitäten zwischen orthodoxen Serben und katholischen Kroaten und beider gegen bosnische Muslime spielte eine verhängnisvolle Rolle, um das sozialistische Jugoslawien zu zerschlagen. Daß nicht bloß das Christentum zur politischen Pervertierung von Religion in Anspruch genommen wird, signalisiert das jugoslawische Beispiel nicht allein. Die schlimmen Folgen der Liaison von religiöser Alleinvertretungsanmaßung und politischer Machtgier traten ebenso zutage sowohl bei der Errichtung islamischer „Gottes­staaten“ und dem mittelalterlichen Radikalismus des Talibanregimes in Afghanistan, wie auch als Konfliktstoff für nicht enden wollende Massaker zwischen Hindus und Moslems auf dem indischen Subkontinent.

Auch die derzeitige US-amerikanische Administration bedient sich pseudoreligiöser Kostümierung, um die Durchsetzung ihres Weltherrschaftsanspruchs als einen von Gott „zur Bekämpfung des Bösen“ erteilten Auftrag auszugeben. Mit seinen zur Schau gestellten Ritualen als tief gläubiger Christ und täglich inbrünstig betender Präsident,  mit dem religiösen Dekor seiner Reden, in denen er droht und Gewalt predigt, geht G. W. Bush darauf aus, als von Gott mit der Autorität des Anklägers, Richters und Vollstreckers ausgestatteter Lenker der Menschheitsgeschicke öffentlich wahrgenommen – und angenommen – zu werden. Daß daraus nichts wird, läßt sich mit Gewißheit voraussagen. Ebenso gewiß aber, daß davon die heutzutage und vermutlich sogar längere Zeit andauernde gefährlichste Bedrohung des Weltfriedens ausgeht. Bush und sein politischer Klüngel sind unverkennbar darauf aus, unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung ihre mit Afghanistan und Irak eingeleitete Serie von Präventivkriegen fortzusetzen. Schon hat die Leitfigur der bösen Gewalt neue Ultimaten angekündigt, künftige Opfer benannt. Um so unbegreiflicher jene leichtfertigen Schwätzer, die angesichts dessen mit der These hausieren gehen,  es könne keine gerechten Kriege geben – und damit vom US-amerikanischen Staatsterrorismus überfallenen Völkern die Legitimation absprechen, daß deren Gegenwehr gerechtfertigt, „gerechter Krieg“ ist.

Daß es in der Welt, so wie sie politisch heute beschaffen ist, gute Gewalt nicht in ausreichend starkem Maße gibt, um die modernen Cäsaren samt ihrer hilfswilligen Legionäre zu zügeln oder, besser noch, sie aktionsunfähig zu machen, ist in der Tat schlimm.

Doch so unwahrscheinlich es ist, daß dies der Welt Dauerzustand bleibt, so wenig läßt sich voraussagen, wann und wie die notwendige Änderung erreicht werden kann. Ich fürchte, da bedarf es großer, die Lebenszeit unserer Generation übersteigende Geduld.

Auch wenn, und da teile ich Ihre Ansicht, der durch meinen falschen Halbsatz ausgelöste Dialog über Gewalt als Mittel der Politik für uns „aktuell keine gravierende Rolle“ spielt: Die Erkenntnis, daß „Gewalt ein unverzichtbares Mittel aller auch nützlicher, fortschritt­licher, friedenssichernder und sozialistischer Politik“ ist, darf nicht zum Opfer der Massenverdummung in der Mediengesellschaft werden. Uns bleibt zumindest die Pflicht, diese Erkenntnis wach zu halten und den Nachkommen zu vermitteln. An ihre Stelle die Illusion zu setzen, daß die Welt besser und das Dasein lebenswerter zu machen sei ohne Kampf, liefe auf geistige Entwaffnung derer hinaus, denen solche Kämpfe nicht erspart bleiben werden. Auch wenn das manche, bereits  im Kommunistischen Manifest als „Philanthropen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen...“ verspot­tete und derzeit als tonangebende „Vorden­ker“ in der PDS wirkende „Gutmenschen“ glauben machen wollen: Selbst durch noch so heftiges Winken mit Parlamentsbillets, sprich Mandatsausweisen, wird nicht jener kräftige Wind zu erzeugen sein, der das Schiff der Menschheit zu den Ufern einer Zukunft trägt, in der sie sich, der Klassengegensätze ledig, einrichten kann als eine „As­soziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwick-lung aller ist.“ Ihre nichtprivilegierte weil Produktionsmittel nicht besitzende Klasse  muß dazu schon die Mühen auf sich nehmen und die Kraft aufbringen, um  „durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse“ zu machen und als solche „gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse“ 3 aufzuheben.

Es empfiehlt sich, öfter in das Kommunistische Manifest zu schauen. Es bleibt, in seinen Grundaussagen, von größter Aktualität.

3. K. Marx / F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei; Dietz-Verlag Berlin 1948, Seite 35



 

Noch ein Brief zum Thema:

„Für Recht und Frieden unter Androhung und Ausübung von Gewalt“


Prof. em. Dr. Kay Müller               24.07.2003

Sehr geehrter Herr Dr. Hanfried Müller,

Ihre Rückfrage an Wolfgang Clausner in den WBl 1/03 ist gut, weil sachlich gerechtfertigt. Sie ist sogar sehr gut, weil Sie bei Zustimmung zu einem ganzen Kommentar mit Ausnahme eines Halbsatzes nicht darauf verzichtet haben, den Halbsatz, den Sie für falsch hielten, auch als falsch zu kritisieren. Eine solche Kritik ist in Zeiten, die jedem seine eigene "Wahrheit" zubilligt, selten geworden.

Auch ich habe gegen einen Halbsatz in Ihrer Stellungnahme zu Clausner einen Einwand. Er betrifft die Einschätzung, die Differenz mit Clausner in der Gewaltfrage habe "aktuell keine gravierende Bedeutung". Diese Einschätzung mag zutreffen, wenn man nur an die militärischen  Gewaltaktionen denkt, die in den letzten Jahren auf Beschluß des Weltsicherheitsrates oder ohne einen solchen Beschluß durchgeführt wurden. "Ohne aktuelle Bedeutung" heißt dann: Alle diese Aktionen waren berechtigt ausnahmslos abzulehnen. Denkt man aber auch an die Kampf­abstimmung auf dem Münsteraner Parteitag zur Friedenspolitik der PDS und die seitdem immer wieder erkennbaren Bemühungen einzelner, das Prinzip der Einzelfallprüfung doch noch durchzusetzen, wird ein Aspekt der Differenz mit Clausner sichtbar, den man durchaus für aktuell und erheblich halten kann. Die Position, die Sie in der Gewaltfrage vertreten (und die ich für richtig halte), entspricht m. E. genau der, um die es mit dem Prinzip der Einzelfallprüfung auf dem Münsteraner Parteitag ging, so diffus und vielfältig angreifbar dieses Prinzip vor und auf dem Münsteraner Parteitag auch begründet wurde. Die Schwächen der Antragsbegründung gehörten zu den Gründen, warum der Parteitag dem ablehnenden, von Emotionen getragenen, geradezu demagogisch begründeten Gegenantrag folgte. Wenn Flierl, wie Clausner jetzt in seinem Kommentar ausführte, von einem Denkverbot spricht, das sich die PDS in Münster auferlegt hat, so hat Flierl Recht und Ihre Rückfrage an Clausner wird Flier und anderen helfen, das Denkverbot zu "kippen", falls es nicht vom linken, marxistischen Flügel der PDS überwunden wird.

Mit freundlichen Grüßen             Kay Müller



 

Und eine Antwort darauf:


Hanfried Müller                  den 30. Juli 2003.

Sehr geehrter Herr Kollege,

über Ihre Zustimmung zu meiner Kritik an Clausners Halbsatz freue ich mich und danke Ihnen für Ihren freundlichen Brief. Zu meiner Freude hat auch Herr Clausner meine kritische Rückfrage voll akzeptiert (wie sein Leserbrief, den wir in WBl 2/03 publizieren werden, zeigt) so daß es auch mit ihm in dieser Frage keinen Dissens gibt.

Zu Ihrer Kritik an meinem Halbsatz, die Differenz mit Clausner in der Gewaltfrage habe "aktuell keine gravierende Bedeutung": Ich meinte diese Einschränkung nicht so eng, wie Sie sie im Blick auf "militärische Gewaltaktionen" interpretieren, sondern im Blick auf die derzeitigen sozialen Kräfteverhältnisse in den imperialistischen Zentralstaaten überhaupt: Hier verfügen zumindest subjektiv, d. h. hinsichtlich des Bewußtseins und der Organisation ihrer Stärke, die ökonomisch ausgebeuteten und politisch unterdrückten Kräfte nicht über ein zureichendes Potential, um zugunsten von Recht und Frieden den herrschenden Kapitalverhältnissen politisch revolutionär unter Androhung und Ausübung von Gewalt als respektable Macht entgegenzutreten. Nahezu alle Macht haben - seit dem Sieg der Konterrevolution Ende der achtziger Jahre - derzeit die reaktionärsten, oft geradezu faschistoide Kräfte; darum ist für progressive Gegenkräfte die Frage nach eigener Machtanwendung derzeit fast bedeutungslos.

Sie wird aber - hoffentlich bald! - wieder aktuell werden, nämlich sobald ein neuer revolutionärer Aufbruch möglich und wirklich wird. Und im Blick darauf dürfen die an einer gesellschaftlichen Umwälzung interessierten Kräfte sich nicht einreden lassen, Gewalt sei böse an sich. Denn ohne Gewaltanwendung zum Guten, nämlich zur Aufhebung der (in der Tat bösen) Macht an sich, die das Kapital in der gegebenen Gesellschaftsordnung einnimmt, wird sich diese Macht nicht aus den Angeln heben lassen.

Es versteht sich von daher, daß ich die Fronten zwischen den PDS-Fraktionen beim Parteitag in Münster, die in der Tat nicht klar genug erfaßt waren, um die PDS unter Marginalisierung ihres durch die Konterrevolution in Führungspositionen gelangten Anpassungsflügels auf einen eindeutig antiimperialistischen Weg zu führen, wahr­scheinlich etwas anders beurteile als Sie.

Mit freundlichen Grüßen Ihr Hanfried Müller



 

Zum Tode von Peter Hacks

von Eberhard Esche


„Und sie füllten alle Plätze,

Wo man Weiber hat und Wein,

Und sie führten die Gesetze

Von ganz früher wieder ein,

Stahlen auch mit langen Fingern

Land und Häuser, Vieh und Brei,

Und ein Heer von Peitschenschwingern

Brachte uns Gehorsam bei."


(Aus dem Gedicht von Peter Hacks "Die dreißig Tyrannen)


Nun werden jene als nostalgisch bezeichnet, die verloren gegangene Werte, die noch vor kurzem existierten, nicht vergessen. Sie werden von denen bezichtigt, die die Gesetze von früher wieder einführen.

Die Frage, wer da nostalgisch, ist eine Frage, die nur in der Verkehrten Welt gestellt werden kann!

Wir hätten einen Dichter für den Faust, der Tragödie dritter Teil, gehabt, einen Dichter, dem das Welttheater auf Dauer mehr zu verdanken haben wird als dem Brecht: Peter Hacks.

Er überstand lächelnd die miefigsten Dedershausener Amtswalter, selbst als sie ihn, vom Ende der siebziger Jahre an, zu jener Zeit schon kokettierend mit dem Imperialismus, nicht mehr aufführten.

Letzten August starb er. Erst verelendete der Sozialismus in den bekannten langen Tod. 14 Jahre später folgte ihm ein deutscher Dichter. An seinem Ende nahm er sich die Möglichkeit, zwei Termine für den Zutritt des Gevatters zu gewähren. Den 1. August oder den 28. August. Der 1. August war der Todestag von Ulbricht. Der 28. August waren die Geburtstage von Goethe und Hegel. Hacks entschied sich für den 28. August 2002. Der Dichter hat sich die Wahl nicht leicht gemacht.

Am 4. September wurde er auf dem Berliner Hugenottenfriedhof, auf dem auch Theodor Fontane liegt, beigesetzt. Zur anschließenden öffentlichen Trauerfeier kamen viele Menschen in eine gemietete Kapelle des Französischen Doms am Berliner Gendarmenmarkt.

Die herrschenden Kleinköpfe lassen ihr Verhältnis, respektive Nichtverhältnis, zu Verstorbenen öffentlichen Interesses durch die Presse wissen. Das geht ganz einfach: Die Presse teilt der Öffentlichkeit die Anzahl der Trauergäste mit. In unserem Fall schrieb sie von 200 erschienenen Personen. Laut Kondolenzbuch waren es aber 423 Trauergäste. Es hatten zwei kleinere Zeitungen den Ort und Termin der Trauerfeier bekanntgegeben. Die an alle Zeitungen zugesandte Pressemitteilung des Verlegers von Hacks, Herrn Dr. Matthias Oehme, dem es gelang, die Gesamt­ausgabe seines Dichters herauszubringen, wurde von den übrigen Zeitungen ignoriert.

Es ist einem Schauspieler, der es sehr gut weiß, wie tief die Dichter, wenn sie denn welche sind, im Bewußtsein des deutschen Publikums leben, gestattet, seine Phantasie zu offenbaren: Hätten alle Zeitungen, so wie es sich gehört, gehandelt, es hätte das dem Französischen Dom benachbarte Schauspielhaus mit seinen über 2000 Plätzen nicht alle Trauernden fassen können. Auch diese Möglichkeit bestand, einem deutschen Dichter die letzte Ehrung zu geben.

 Stattdessen hat man die Kunsteunuchen, schädlich wie immer und nützlich schon wieder. Ihr einzig bemerkenswertes Charaktermerkmal ist die gewissenlose, mit einem kleinen Schuß geduldeter Opposition versehene, über die wechselnden Systeme hinweg, lang geübte Anpassung. Da hocken sie schon immer in ihren Eckchen, schon immer in der Riechnähe der Tafel der Einflußgebenden und zwicken aufs Neue mit Traktätchen den Hacks in die, inzwischen von echten Würmern angegangene, Ferse und hoffen auf zugeworfenes Schappi von oben. Und natürlich erklären sie nun beflissen, Hacks sei schon immer ein Romantiker gewesen und hätte folglich die Welt dementsprechend beschrieben. Einer wußte es genauer und nannten ihn einen Stalinisten. Ein anderer, einer der Kühnsten der Schappihascher, übertraf den einen und nannte Hacks einen Welttrotzkisten. Und waren die Kunsteunuchen sich in diesem Punkt auch ein wenig uneinig - einig sind sie sich im Wesentlichen und nennen ihn einen Romantiker.

Jetzt, wo er tot ist, finden sie ihn also lieb und versuchen ihn mit bewährter Methode harmlos zu machen. So schreibt diese unverwüstliche Art unverdrossen, seit nahezu 200 Jahren: Die beiden großen Klassiker der Deutschen und der Welt, Goethe und Heine, wären Romantiker gewesen.

Küchenschaben bringen Götter unter ihre Augenhöhe und erklären uns so die Welt.

Lassen wir das.

Dieser Sommer hatte wenig Mücken, doch wäre es ein Trugschluß gewesen, hätte man daraus die Schlußfolgerung gezogen, die Mücken wären ausgestorben. Vorgestern wurde es wieder etwas wärmer und feuchter. Bums, waren die Mücken wieder da.

Da in der Jetztzeit selbst Lächerlichstes, wurde es nur oft genug durch den Quotenkanal gedreht, mit Klassisch bezeichnet wird, sei mir zur Klärung der Begriffe gestattet, Goethe zu zitieren:

Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke. Und da sind die Nibelungen klassisch wie der Homer, denn beide sind gesund und tüchtig. Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es frisch, froh und gesund ist. Wenn wir nach solchen Qualitäten Klassisches und Romantisches unterschei­den, so werden wir bald im reinen sein.                                        (Eckermann, 2. 4. 1829)

Der Dichter Peter Hacks gehört zu der Partei der Unbestechlichen. Bekanntlich ist das eine sehr kleine Partei. Alle großen Parteien und alle, die groß werden wollen, halten sie für ein Gespenst. Das ist der rote Faden durch die Geschichte der Menschheit, der Krieg.

Die Unbestechlichen sind sehr mutige Leute. Nie tritt aus ihrem Verbund jemand aus. Selten tritt ihm jemand bei. Gruppenweise Beitritte sind mir nicht bekannt geworden. Aber: Die kleine Partei ist eine Weltpartei.

Denn sie lebt in den Hoffnungen der Menschheit.



* In einer Wahlzeitung der PDS Meckl.-Vorpommern, Menschen im Norden, 1990, Nr. 3, S. 7

* Die 1989 gerade ausgedruckte 2. Aufl. wurde, außer einigen dem Autor überlassenen Exemplaren, eingestampft. Wer sich für die ungekürzte Gesamtfassung dieses Exkurses interessiert, kann gegen Erstattung der Versandkosten noch Exemplare aus diesem Restbestand bestellen.

1 Van der Leeuw, Artikel Religion in RGG 2. Aufl., Bd. IV, Sp. 1860

2 So setzt z.B. Calvin seine Dogmatik als Ausdruck der

wahren, nämlich reformierten "Religion" der falschen, nämlich katholischen "Religion" entgegen. Dabei meint der Begriff "Religion" natürlich nicht das, was wir mit unserer Frage heute darunter verstehen. Nur in einem schlechthin religiös denkenden Zeitalter, in dem nicht Religionslosigkeit, sondern nur andere Religionen als Alternativen in Erscheinung treten, hat dieser enge Religionsbegriff seinen Platz. Das Verständnis Calvins vom christlichen Glauben als "religio" sagt darum auch noch nichts darüber aus, ob Calvin eigentlich das Christentum oder gar das Evangelium als "Religion" in unserem Sinne des Wortes hätte verstanden wissen wollen.

3 Schleiermacher, Der christliche Glaube Bd 1, Reutlingen 1828, § 9, S. 78

4 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, Reutlingen 1828, § 9, S. 38..

5 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion, hrsg. v. O. Braun, Leipzig 1920, S. 37 ff.

6 Ebenda S. 34

7 Ebenda S. 37

8 J. A. Möhler, Symbolik, Regenburg, 12. Aufl. 1924, S. 238, Anmerkung

9  Möhler, a. a. O. S. 253

10 Einen ausgezeichneten Einblick in die Würdigung der Protestfunktion der Religion in theologie- resp. ideologiegeschichtlicher Hinsicht gewährt M. M. Smirin, Die Volksreformation des Thomas Münzer und der große Bauernkrieg, Berlin, 1952; man muß diese Seite marxistischen Religionsverständnisses und marxistischer Religionskritik auch kennen, um zu verstehen, daß das Angebot der marxistisch-leninistischen Parteien an Menschen "religiöser Weltanschauung" zu vertrauensvoller Zusammenarbeit kein taktischer Schachzug ist, sondern darauf beruht, daß positive humanistische gesellschaftliche Anliegen unter bestimmten historischen Bedingungen in religiöser Form vertreten werden und es darum ohne jede ideologische Koexistenz Gemeinsamkeiten in der humanistischen Orientierung zwischen z. B. Christen und Marxisten gibt. In diesem Sinne wird von marxistischer Seite insbesondere auch der antifaschistische Kampf von Christen gewertet. Vgl. dazu z. B. Hermann Matern, Unser gemeinsamer Weg zur sozialistischen Menschengemeinschaft, Berlin, 1969, und Paul Verner, Gemeinsam auf dem guten Weg des Friedens und des Sozialismus, in Verner/Götting, Christen und Marxisten in gemeinsamer Verantwortung, Berlin, 1971; dort v. a. S. 10-17 die sachliche und historische Begründung der Zusammenarbeit von Christen und Marxisten; v. a. S. 34 ff. die damit unlöslich zusammengehörige Polemik gegen ideologische Koexistenz mit der besonders wichtigen Implikation S. 37: "Es hat zwar eine Verpreußung der evangelischen Kirchen und nationalistische, ja sogar faschistische Verfälschungen der christlichen Botschaft gegeben - eine 'Sozialisierung' der christlichen Lehre hat es bisher nicht gegeben und wird es auch in Zukunft nicht geben."

11 Es mag in diesem Zusammenhang interessant sein, daran zu erinnern, daß Bultmanns Mythosdefinition die genaue Umkehrung dieser Religionsdefinition enthält. Bultmann definiert: "Mythologisch ist die Vorstellungsweise, in der das Unweltliche, Göttliche als Weltliches, Menschliches, das Jenseitige als Diesseitiges erscheint..." (Neues Testament und Mythologie, Kerygma und Mythos, Hrsg. H. W. Bartsch, Bd. 1, Hamburg 1948, S.- 23 Anm.). An dieser Definition wird deutlich, daß Entmythologisierung etwas ganz anderes meint als nichtreligiöse Interpretation: jene zielt darauf ab, Jenseitiges nicht diesseitig, diese darauf, Diesseitiges nicht jenseitig vorzustellen. Religion ist die Voraussetzung des (in Bultmanns Sinn verstandenen) Mythos und dessen Aufhebung kann somit dazu dienen, nur um so reiner Religion selbst hervortreten zu lassen. Objektiv-idealistisch geschieht das in der faktisch von Hegel vollzogenen Entmythologisierung des Christentums (absoluter Geist), subjektiv-idealistisch in Bultmanns eigener  existentialer Interpretation des Neuen Testaments (christliches Selbstverständnis), die mit der Frage nach der transzendental-begründeten "Eigentlichkeit" des Menschen in abstracto subjektive Religiosität ausdrückt.

12 Auch dieser Gedanke von Engels ist theologiegeschichtlich aktuell, wenn z. B. die Verschlungenheit der Widerspiegelung unerkannter und unbeherrschter Kräfte der Natur, der Gesellschaft und des gesellschaftlich desorientierten Individuums darin ausgedrückt werden, daß man die Trinitätslehre, deren eigentlicher Inhalt einem unverständlich geworden ist, apologetisch umdeutet im Sinne einer Dreieinigkeit von Gott als dem Herrn der Natur, der Geschichte und der Existenz, anscheinend ohne zu bemerken, wie sehr man mit solcher Umdeutung die eigene Theologie als religiöse Widerspiegelung transparent macht, <während andererseits Marxisten, wie jüngst H. H. Holz als rationellen Kern aus der Trinitätslehre die Entwicklung der Dialektik entnehmen. - Einfg. 2003. H.M.>

13 MEW, Bd. 20, Berlin 1962, S. 294 f. - Diese kritische Definition der Religion steht im Zusammenhang der Polemik gegen Eugen Dührings Programm: „Die Religion wird verboten“; der Nachweis der historischen Perspektivlosigkeit religiöser Weltanschauung dient der Argumentation gegen den sinnlosen Versuch, die Religion administrativ zu beseitigen.

14 Zitiert nach Tschackert, Art. Revolution, französische in Realenzyklopädie für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 16, Leipzig 1905, S. 728

15 Zwei Jahre vorher, Januar 1842, findet sich noch das ganz unkritische Lob Feuerbachs bei Marx: "... Es gibt keinen andern Weg für euch zur Wahrheit und Freiheit als durch den Feuer-bach. Der Feuerbach ist das Purgatorium der Gegenwart" (MEW, Bd. 1, Berlin 1956, S. 27). Marx ist diesen Weg selbst gegangen, freilich ist er nicht wie viele bürgerliche "Marxologen" im Feuer-bach steckengeblieben und ertrunken. Das folgende Zitat zeigt, wie Marx, von einer noch idealistischen Kritik ausgehend, bei materialistischer Kritik anlangt. Im Begriff der "Entfremdung" klingt hier noch die abstrakt-anthropologische Hegelsche Fassung an, das Ganze ist aber schon Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen dieser Entfremdung und führt bis zur Erkenntnis der Rolle des Proletariats in der Geschichte. Anschaulich spricht Lenin von dieser Zeit als der Periode, in der Marx "erst begann, Marx zu werden, d. h. zum Begründer des Sozialismus als Wissenschaft..." (Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1952, S. 327), und stellt im Blick auf die Periode der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie fest, Marx träte uns bereits "als Revolutionär entgegen, der die 'rücksichtslose Kritik alles Bestehenden" und im besonderen die 'Kritik der Waffen' verkündet, der an die Massen und an das Proletariat appelliert". (Lenin, Karl Marx/Friedrich Engels, Eine Einführung in den Marxismus, Berlin 1953, S. 7).

16  MEW, Bd. 1, S. 378 f.

17  ebda., S. 385

18 MEW 3, S. 534 (These 4) und S. 533 (These 2))

19  Ebda., S. 533 (These 3)

20 Dieses Phänomen wurde z. B. 1967 <im Vorfeld des Versuches, schon damals die CSSR konterrevolutionär aufzurollen - Einfg. 2003 - H.M.> bei einer Tagung der Paulusgesellschaft besonders deutlich, in der die Grund­linie von einem elitären Nonkonformismus bestimmt wurde, auf dessen Plattform sich intellektuelle bürgerliche Naturwissenschaftler, katholische und evangelische Theologen und revisionistische "marxistische" Philosophen" darin trafen, daß sie sich je von ihren Massen - die Theologen von der Gemeinde, die "Marxisten" von ihren Parteien - distanzierten, um der führenden Rolle der Arbeiterklasse einen Führungsanspruch der kleinbürgerlichen Intelligenz entgegenzustellen. Die elitäre Erhebung gemeindefremder Theologen und parteifeindlicher Philosophen über die verachteten Massen führte damals noch nicht zum Ziel. "Die Nonkonformisten in beiden Lagern konnten miuteinander reden, aber sie waren gegenüber dem Konformitätsdruck in ihren jeweiligen Lagern ziemlich machtlos", stellte Moltmann enttäuscht im Rückblick fest (Evang. Kommentare 1970, H. 3, S 149: vgl dazu auch die Kritik an Moltmann bei Bassarak, Theologie des Genitivs, Berlin 1975, S. 22 ff.). - Natürlich hatte das revisionistische Unternehmen jenes "Dialogs" noch wesentlich andere Elemente als das in diesem Zusammenhang hervorgehobene (vgl. dazu Bauer-Liepert, Sirenengesang eines Renegaten oder die "große Wende" Roger Garaudys, Berlin 1971).

21  MEW 3, S. 534 (These 6)

22 Ebda., S. 535 (These 7)

23 Ebda.

24 MEW, Bd. 18, S. 531 (Textfassung von 1894)

25  Ebenda S. 595.  - Eine Religionskritik, die sich auch in der Gegenwart noch bürgerlich-aufklärerisch naturwissenschaftlich beschränkt, ist erstens weithin umwirksam gegenüber derjenigen imperialistisch manipulierten Religiosität, die sich in der Subjektivität des Existenzverständnisses zurückzieht und mit spätbürgerlichem Subjektivismus, Irrationalismus und Nihilismus in ein Verhältnis der Wechselwirkung tritt. Sie ist zweitens ungeeignet zur überzeugenden Abgrenzung gegen inhumanistische, biologistische und in diesem Sinne naturalistische Formen imperialistisch-nihilistischer Ideologien; drittens kann allein naturwissenschaftlich orientierte Religionskritik schon darum nicht überzeugen, weil ja in der spätbürgerlichen Gesellschaft viel weniger unbeherrschte Mächte der Natur als viel mehr in der bürgerlichen Gesellschaft unbeherrschte gesellschaftliche Mächte religiös reflektiert werden und darum rein naturwissenschaftlich-antireligiöse Aufklärung immer einen existentiell wirksamen Rest hinterlassen wird, den die Naturwissenschaft so wenig erklären kann, wie sie - bei aller ihr immanenten Tendenz zum dialektischen Materialismus - sich spontan zu historisch-dialektischer materialistischer Weltanschauung entwickelt.

* Leicht gekürzt aus der Festschrift für Peter Hacks "In den Trümmern ohne Gnade", Hrsg. André Thiele, Eulenspiegel-Verlag, 2003, ISBN 3-359-01532-0. S. 215-226

1 Roter Brandenburger, Nr. 6/2002, S. 14

2  J. W. Stalin, Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Dietz-Verlag, Berlin, 1952, S. 67-70

3  Presse der Sowjetunion, Nr. 129, 1961, S. 2804

4 Walter Ulbricht, Die Bedeutung des Werkes "Das Kapital" von Karl Marx für die Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR und den Kampf gegen das staatsmonopolistische Herrschaftssystem in Westdeutschland, Berlin 1967, S. 38-40. (Hervorhebung von mir, K. G.)

[1] Die „Modernisierer“ sind auch sonst in ihrer Wortwahl nicht zimperlich, wenn sie von „Egomanen“ und „Schar­latanen“ sprechen, um die Gegner ihres Kurses zu diffamieren.

[2] „Die Dialektik der Geschichte ist derart, dass der theoretische Sieg des Marxismus seine Feinde zwingt, sich als Marxisten zu verkleiden. Der innerlich verfaulte Liberalismus versucht, sich als sozialistischer Opportunismus neu zu beleben“ In: Die historischen Schicksale der Lehrer von Karl Marx, W.I. Lenin, Werke, Bd. 18, S 576-579

[3] Wladimir Iljitsch Lenin: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, W.I. Lenin, Werke, Bd.5, S.355-549.

[4]  Dabei haben wir immer zu berücksichtigen: Es stellt „sich die Menschheit (und das sollte auch für Kommunisten gelten - der Autor) immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihre Werdens begriffen sind.“ Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Vorwort), MEW. Bd 13, S. 9

[5] „Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes“, Beschluss der zweiten außerordentlichen Tagung des 8. Parteitages der PDS 28./29. Juni 2003 in Berlin.

[6] Aus: Gabi Zimmer, Rede auf der zweiten außerordentlichen Tagung des 8. Parteitages der PDS 28./29. Juni 2003 in Berlin

[7] „Der Parteitag der Partei des Demokratischen Sozialismus schließt sich in diesem Sinne dem Appell von PDS-Politikerinnen und -Politikern an, einen Sozialkonvent zur Reform des Wirtschafts- und Sozialsystems durchzuführen. Wir wollen die breiteste gesellschaftliche Dis­kussion, Meinungsbildung und Entschließung. Diese Diskussion muss gerade in den Städten und Gemeinden entwickelt werden.“ In: „Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes“, Beschluss der zweiten außerordentlichen Tagung des 8. Parteitages der PDS 28./29. Juni 2003 in Berlin.

[8] Es geht nicht um „schlaue Lösungen“ (was immer das sein soll), sondern um Lösungen, die die Wirklichkeit richtig widerspiegeln, die wissenschaftlich begründet sind und nicht nur subjektiven Mehrheitsmeinung entsprechen (etwa die von der Senkung der Lohnnebenkosten und der Steuern). Mit einem Worte, es geht um Lösungen, die den wissenschaftlichen Wahrheitskriterien standhalten und die die „subjektive Befindlichkeit“ der Akteure. berücksichtigen.

[9] http://www.pds-online.de/politik/presseerklaerungen/ Pres­seerklärung vom 29.05.2003

Die in der Presseerklärung zum Sozialkonvent vertretene Position erinnert an die Erklärung: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. Ihr Ergebnis waren 20 Millionen Tote, aber auch eine Revolution.

[10] „Das Wichtigste in der Marxschen Lehrer ist die Klarstellung der weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats als des Schöpfers der sozialistischen Gesellschaft“ … „Wer nach den Erfahrungen sowohl Europas als auch Asiens von einer nicht klassengebunden Politik und einem klassengebunden Sozialismus spricht, der verdient, einfach in einem Käfig gesperrt und neben irgend einem australischen Känguru zur Schau gestellt zu werden“ In: Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx, W.I. Lenin, Werke, Bd. 18, S 576-579

11 In: Rede Lothar Bisky auf der zweiten außerordentlichen Tagung des 8. Parteitages der PDS 28./29. Juni 2003 in Berlin

12 Bernd Rump: „Von der Ideologie zurück zur Politik!“ In: Neues Deutschland vom 06.06.2003

* Abdruck aus der "uz"  vom 1. 8. 2003 S. 15

* Der Artikel ist unter der Überschrift "God bless America" in "junge Welt" vom 23. 7. 2003 erschienen. Er beruht auf einem Vortrag, den der Jenenser Historiker auf der am 5./6. Juli 2003 von der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal veranstalteten Tagung "Imperialistische Kriegspolitik und Staats- bzw. Demokratiefrage heute" gehalten hat. Zwischenüberschriften aus ‘junge Welt’

* Entnommen aus "Ossietzki" Heft 14/2003 vom 12. Juli 2003, S. 477 f.

[11]  J. Stalin, Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Berlin 1952, S. 33 f., S. 37

1 Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei , Dietz Verlag Berlin 1948, Seite 9

2 Nelson Mandela: Der lange Weg zur Freiheit, Fischer Taschenbuch Verlag 1997, Seite 380 ff.

 

 
 

 

Winfried Maechler

12. April 1910 - 13. August 2003

Je älter ich werde, desto dankbarer bin ich dafür, daß wir Christen nicht wie die Moslems einen siegreichen, sondern einen leidenden Gott haben, von dem wir hoffen dürfen, daß er auch in der Todesstunde bei uns ist.

Winfried Maechler in WBl 4/1996, S. 5


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